Laokoon

Erst die vierte und fünfte Unterrasse (der nachatlantischen Zeit) sind gebaut auf die Klugheit des Menschen, des einzelnen Menschen. Ein großes Denkmal für die Überwindung der alten Priesterkultur durch die Klugheit des einzelnen Menschen haben wir in der Kunst: in der Laokoon-Gruppe. In dem Priester Laokoon, von Schlangen umwunden – die Schlangen als Symbol der Klugheit –, ist dargestellt, wie die Weltklugheitskultur überwindet die alte Priesterkultur, in der man andere Ansichten hatte von Wahrheit und Weisheit und von dem, was geschehen soll. Es war die Überwindung der dritten durch die vierte Unterrasse. Noch in einem anderen Symbol wird das dargestellt: in der Sage vom trojanischen Pferd. Die Klugheit des Odysseus hat das trojanische Pferd gebaut, wodurch die trojanische Priesterkultur gestürzt wurde. [1]

Wenn wir die Laokoon-Gruppe ansehen und ein unmittelbares Empfinden haben, dann werden wir uns klar darüber, daß wir in der Laokoon-Gruppe den ganz bestimmten Moment gegeben haben, wo durch die Umringelung der Schlangen dasjenige, was wir das menschliche Ich nennen, aus dem Leibe des Laokoon heraus ist, wo die einzelnen des Ich entblößten Triebe, ein jeder bis in das Körperliche hinein, ihren Weg gehen. So sehen wir, wie der Unterleib, der Kopf, jedes einzelne Glied seinen Weg geht und nicht in den charaktervollen Einklang gebracht werden mit der äußeren Gestalt, weil das Ich eben entschwunden ist. Ein solcher Moment, der uns im Äußerlich-Körperlichen zeigt, wie der Mensch den einheitlichen Charakter verliert, wenn das Ich schwindet, das als starker Mittelpunkt selbst die Leibesglieder zusammenfügt, ein solcher Moment ist uns im Laokoon dargestellt. [2]

Laokoon, alte ErgänzungLaokoon, neue Ergänzung

(Seit dem Jahre 1961 steht die rechte Fassung der Gruppe des Laokoon mit seinen Söhnen in der Vatikanischen Sammlung, nachdem ein Armfragment gefunden wurde, das angesetzt werden konnte. Die linke Fassung stammt als Restauration aus der Werkstatt Michelangelos. Deren uns allerdings sehr vertrauten dynamischen Gestik steht in einem Gegensatz zu den untenstehenden Angaben Rudolf Steiners, die aber durch diesen Fund glänzend bestätigt wurden).

Nehmen Sie den (zur Niobe – siehe: Griechische Plastik – Gestaltungsprinzip) entgegengesetzten Fall: Es sei gar keine Veranlassung da, daß das Ich und der astralische Leib aus dem physischen und Ätherleib getrieben werden, weil der physische und der Ätherleib von außen zerstört werden, weil sie genommen werden dem Ich und dem astralischen Leibe. Da müssen also dieses Ich und der astralische Leib heraus. Aber indem von außen zerstört werden physischer Leib und Ätherleib, bekommen sie eine Form, welche auf der einen Seite der Zerstörungskraft folgt, auf der anderen Seite förmlich sichtbar macht, wie das Ich und der astralische Leib herausgedrängt werden. Da würde man sehen an dem physischen und an dem Ätherleib nicht, wie sie zur Bildsäule werden, nicht, wie sie erstarren gewissermaßen in der Materie, in der geformten Materie, sondern man würde sehen, wie das Ich da drinnen noch wie der astralische Leib sich noch bemüht, den ätherischen Leib zu formen. Das haben Sie ja auch in Griechenland gebildet: Das ist der Laokoon. Den Laokoon können Sie verstehen, wenn Sie sich durchdringen mit der Erkenntnis, daß es da entgegengesetzt ist wie bei der Niobe, daß da von außen der physische Leib und der Ätherleib zerstört werden und wie das Ganze kämpft mit dem Ich und mit dem astralischen Leib, die da herausgedrängt werden. So daß Sie in jeder Formung, in der Formung des Mundes, in der Formung des Gesichtes, in dem Halten der Arme, in den Formen, die die Finger annehmen, es dem Laokoon ansehen, daß die Situation wiedergegeben ist, von der ich eben jetzt spreche. [3]

Zitate:

[1]  GA 93, Seite 132   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[2]  GA 58, Seite 160f   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[3]  GA 211, Seite 88   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)

Quellen:

GA 58:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil (1909/1910)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)