Lampenfieber

Rudolf Steiner lehnte das Vorlesen von Vorträgen nach Manuskripten, wie es heute vielfach üblich geworden ist, grundsätzlich ab, und er hatte deshalb auch immer einen lebendigen Kontakt mit den Menschen, die vor ihm saßen. Ich habe ihn viel später einmal gefragt, ob er nie das empfunden habe, was man «Lampenfieber» nennt und was jeder Vortragende nur zu gut kennt. Rudolf Steiner antwortete zu meinem Erstaunen – denn ich hatte es an ihm nie gemerkt – daß es gut und notwendig sei, wenn der Vortragende etwas «Lampenfieber» habe, denn das komme daher, daß man nicht mit einem verfestigten, starren Inhalt an die Zuhörer herantrete, sondern auch während des Sprechens noch mit der bestmöglichen Darstellung ringe. Auch er habe diesen Zustand innerer Anspannung bei einem Vortrag immer empfunden und rate dringend, ihn nicht zu verlieren. [1]

Diese Abneigung gegen das eigene Reden ist es eigentlich, die es einem ermöglicht, eben entsprechend wirklich zu reden. Das ist außerordentlich wichtig. Und bei den Menschen, die es doch nicht zustande bekommen das eigene Reden mit Antipathie zu betrachten, bei denen ist es gut, wenn sie wenigstens das Lampenfieber sich bewahren, denn ohne Lampenfieber und mit Sympathie für das eigene Reden sich hinstellen und reden, das ist eigentlich etwas, das man unterlassen sollte, denn es wirkt unter allen Umständen nicht gut in der Welt. Es wirkt zur Sklerotisierung der Rede, zur Verknöcherung, zur Verkapselung der Rede und gehört dann eben zu dem, was den Leuten die Predigt verdirbt. [2]

Man hat aber nötig, ziemlich genau formuliert zu haben die ersten fünf oder sechs und die letzten fünf oder sechs Sätze. Denn es ist in der Regel bei einem, der als Mensch, nicht als Sprechautomat vor das Publikum hintritt, bei den ersten fünf bis sechs Sätzen das Lampenfieber da. Gerade wenn er eben Mensch ist und nicht Sprechmaschine, ist es schon so. Das ist etwas durchaus Gutes, dieses Lampenfieber. Es kann die verschiedensten Nuancen annehmen. Es kann so sein, daß da die innere Lebendigkeit durch dieses Lampenfieber bei den ersten fünf oder sechs Sätzen, wenn sie gut formuliert sind, da ist, daß diese Formulierung uns aber ein gewisses inneres Verhältnis dazu gibt, während, wenn wir die Sätze nicht formuliert haben, es einem zu leicht passieren kann, daß einem nichts einfällt und dergleichen, nicht wahr. [3]

Zitate:

[1]  Wa, Seite 96   (Ausgabe 1941, 0 Seiten)
[2]  GA 339, Seite 78   (Ausgabe 1984, 132 Seiten)
[3]  GA 338, Seite 100f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)

Quellen:

GA 338:  Wie wirkt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus?. Zwei Schulungskurse für Redner und aktive Vertreter des Dreigliederungsgedankens (1921)
GA 339:  Anthroposophie, soziale Dreigliederung und Redekunst. Orientierungskurs für die öffentliche Wirksamkeit mit besonderem Hinblick auf die Schweiz (1921)
Wa:  Guenther Wachsmuth: Die Geburt der Geisteswissenschaft (1941)