Kreuzzüge

Im ersten richtigen Kreuzzuge waren es großenteils Ketzer, die sich aufmachten. Das geht auch aus der Person des Führers hervor. Gottfried von Bouillon war von entschieden antipäpstlicher Gesinnung, wie aus seinem Vorleben hervorgeht. [1] Er und die anderen, die mit ihm verbunden waren, sind aus den Reihen der Ketzer hervorgegangen. Und für diese war das Ziel zunächst ein christliches: sie wollten mit Hilfe der Kreuzzüge, indem sie von Jerusalem aus ein neues Zentrum gegen Rom begründeten, ein wirkliches Christentum an die Stelle des Christentums in Rom setzen. [2] Drüben in Asien war aber aufgeblüht auf Grundlage dessen, was ich in ganz materieller Weise geschildert habe als Goldzufluß nach dem Oriente (aus dem Römerreich), die alte Perserlehre, die einen großen Aufschwung genommen hat. Die Kreuzfahrer erweiterten ihren Gesichtskreis sehr, konnten anknüpfen an dasjenige, was eigentlich verschüttet war (durch die Ausrottung der Gnosis), und daher wurde ihnen manches Geheimnis kund, das sie sorgfältig behüteten. Die Folge davon war, daß sie, weil sie nicht mächtig genug waren, «Jerusalem gegen Rom» durchzuführen, die Dinge weiter als Geheimnis behandeln mußten. Daher entstanden Orden, allerlei Bünde, welche gewisse christliche Dinge unter anderem Mantel, weil eben die Kirche mächtig war, in Orden und dergleichen bewahrten, die aber gegnerisch gegen die Kirche sind. [3]

Was noch vom Osten nach Mitteleuropa und nach dem Westen hereinragte an Pilgerstimmung, an Hinneigung zu dem realen Mittelpunkte (Christus-Ereignis), dem konnte Peter von Amiens zunächst ein wenig, nachdem aber ein Bernhard von Clairvaux mit einer wirklich blendenden Glut das Kreuz predigen. Und dem, was in Europa an solcher Pilgerströmung vorhanden war, mischte sich die Strömung bei, die übriggeblieben war aus diesem Westlichen auf dem Umwege durch das Gralstum, durch das Artustum: was da übriggeblieben war als die Esoterik. [4]

Die Esoterik war der treibende Impuls. Was man nach Westen hinüber verloren hatte, dessen wollte man ansichtig werden, indem man sich wiederum mit dem Grabe des Erlösers verband. [5] Bernhard von Clairvaux, die vielleicht bedeutsamste Persönlichkeit des 12. Jahrhunderts, in dieser Persönlichkeit lebte eine ungeheure Hingabe an die geistige Welt, ein absolutes Aufgehen in der geistigen Welt. [6] Aus solchen Stimmungen wie diese, die uns auf einer höchsten Stufe in dem heiligen Bernhard erscheint, geht die europäische Tendenz aus verstärkter, konsolidierter Glaubenskraft hervor, Jerusalem an die Stelle von Rom zu setzen: Ecclesia catholica non romana.

Wir sehen, wie die europäische Glaubenskraft in diejenigen Gefilde hinein ihre Aura sendet, in welche die Römer ihr Gold gesandt haben! Mit dem Golde und seinen Folgen im Orient stoßen die Kreuzfahrer zusammen, mit dem römischen Gold auf der einen Seite, mit der orientalischen Gnosis auf der anderen Seite. [7] Die Kreuzfahrer strebten danach, das Althergebrachte in seiner wahren Gestalt, in seiner wahren Substanz sogar zu finden: Hin nach Jerusalem, um das Alte zu finden und es auf eine andere Weise in die Entwickelung hereinzustellen, als es Rom hereingestellt hat. – Mit den Kreuzzügen ahnt man, daß heraufkommt das Zeitalter der Bewußtseinsseele mit seiner Unproduktivität, die es zunächst entfaltet. Und im Zusammenhang mit den Kreuzzügen entsteht der Tempelherrenorden. Und mit dem Tempelherrenorden kommen nach Europa die Geheimnisse des orientalischen Wesens, und sie werden eingeimpft der europäischen Geisteskultur. [8]

Nicht die Ursachen, sondern die Wirkungen der Kreuzzüge sind es, die von besonderer Bedeutung für die Weiterentwickelung geworden sind. Bald nach Beginn wurde eine dieser Wirkungen sichtbar: nämlich ein viel intimerer Austausch zwischen den einzelnen Ländern. Bisher war Deutschland im allgemeinen ziemlich unbekannt mit den romanischen Ländern geblieben; jetzt wurden sie durch die Waffenbrüderschaft einander nähergebracht. Auch die maurische Wissenschaft fand erst auf diesem Wege wirklichen Eingang. Erst jetzt kam der Einfluß wahrer Wissenschaft vom Osten. Dieser war bisher völlig verschlossen gewesen und bewahrte große Bildungschätze in den Schriften der griechischen Klassiker. Es entstand erst durch die Berührung mit dem Osten eine Wissenschaft. [9]

Zitate:

[1]  GA 51, Seite 180   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[2]  GA 180, Seite 325   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[3]  GA 180, Seite 326   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[4]  GA 216, Seite 136   (Ausgabe 1965, 144 Seiten)
[5]  GA 216, Seite 138   (Ausgabe 1965, 144 Seiten)
[6]  GA 181, Seite 343f   (Ausgabe 1967, 480 Seiten)
[7]  GA 181, Seite 354   (Ausgabe 1967, 480 Seiten)
[8]  GA 185, Seite 43f   (Ausgabe 1982, 254 Seiten)
[9]  GA 51, Seite 167f   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)

Quellen:

GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 181:  Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft (1918)
GA 185:  Geschichtliche Symptomatologie (1918)
GA 216:  Die Grundimpulse des weltgeschichtlichen Werdens der Menschheit (1922)