Kontinuität des Bewußtseins

Wer sich der inneren Versenkung ergibt, der wird bei gehöriger Aufmerksamkeit an seinem Schlaf etwas gewahr werden. Er wird fühlen, daß er während des Schlafes «nicht ganz schläft», sondern daß seine Seele Zeiten hat, in denen sie schlafend doch in einer gewissen Art tätig ist. In solchen Zuständen halten die natürlichen Vorgänge die Einflüsse der Außenwelt ab, welche die Seele wachend noch nicht aus eigener Kraft abhalten kann. Wenn aber nun die Übungen der Versenkung schon gewirkt haben, so löst sich die Seele während des Schlafes aus der Bewußtlosigkeit heraus und fühlt die geistig-seelische Welt. In einer zweifachen Art kann das eintreten. Es kann dem Menschen während des Schlafens klar sein: ich bin nun in einer andern Welt, oder aber er kann in sich nach dem Erwachen die Erinnerung haben: ich war in einer andern Welt. Zu dem ersteren gehört allerdings eine größere innere Energie als zu dem zweiten. Daher wird das letztere bei dem Anfänger in der Geistesschulung das häufigere sein. Nach und nach kann das so weit gehen, daß dem Schüler nach dem Erwachen vorkommt: ich war die ganze Schlafenszeit hindurch in einer andern Welt, aus der ich aufgetaucht bin mit dem Erwachen. Und seine Erinnerung an die Wesenheiten und Tatsachen dieser andern Welt wird eine immer bestimmtere werden. Es ist bei dem Geistesschüler dann in der einen oder der andern Form das eingetreten, was man die Kontinuität des Bewußtseins nennen kann. (Die Fortdauer des Bewußtseins während des Schlafens.) Damit ist aber durchaus nicht gemeint, daß etwa der Mensch immer während des Schlafes sein Bewußtsein hat. Es ist schon viel errungen in der Kontinuität des Bewußtseins, wenn der Mensch, der sonst schläft wie ein anderer, gewisse Zeiten hat während des Schlafens, in denen er auf eine geistig-seelische Welt wie bewußt hinschauen kann, oder wenn er im Wachen auf solche kurz dauernde Bewußtseinszustände wieder wie hinschauen kann. Es ist gut, durch diesen Übergangszustand behufs Schulung hindurchzugehen; aber man soll durchaus nicht glauben, daß eine abschließende Anschauung in bezug auf die geistig-seelische Welt aus diesem Übergangszustande geschöpft werden soll. Die Seele ist in diesem Zustande unsicher und kann sich darinnen noch nicht auf dasjenige verlassen, was sie wahrnimmt. Aber sie sammelt durch solche Erlebnisse immer mehr Kraft, um dann auch während des, Wachens dazu zu gelangen, die störenden Einflüsse der physischen Außen- und Innenwelt von sich abzuhalten und so zu geistig-seelischer Beobachtung zu gelangen, wenn keine Eindrücke durch die Sinne kommen, wenn der an das physische Gehirn gebundene Verstand schweigt und wenn auch die Vorstellungen der Versenkung aus dem Bewußtsein entfernt sind, durch welche man sich auf das geistige Schauen ja nur vorbereitet hat. [1]

Wenn man immer mehr und mehr solche Übungen (zur übersinnlichen Erkenntnis) weiter macht, kommt man dadurch dazu, nicht immer schlafen zu müssen, wenn man aus seinem Leibe heraus ist, sondern willkürlich Gefühl und Wille aus seinem Leibe wirklich herausziehen zu können und wirklich zurückzuschauen auf den Leib. Dann ist der Leib des Menschen etwas, was objektiv ist. Und man hat die eigentümliche Tatsache, daß man früher als Subjekt, als Persönlichkeit, mit seinen Gedanken verbunden war, jetzt hat man die Gedankenwelt, ich möchte sagen, wie auf einer fotografischen Platte vor sich, indem man auf den eigenen Leib zurückschaut. Es ist, wie man sonst im Auge drinnen ein kleines Abbild der überschauten Welt hat. – Wie das Auge (nur) dadurch ein Organ für das Sehen ist, daß sich die Welt darin abbilden kann, so wird für eine solche Anschauung der zurückgebliebene Äther- und physische Leib ein Spiegelungsapparat, wo es sich nun eben geistig-seelisch jetzt spiegelt, während sich im Auge nur äußerlich physisch etwas spiegelt. Aber man sieht durch diesen Spiegel eben nicht nur das Gedankengewebe, sondern man sieht die Welt, indem man die Gedanken zurückgelassen hat am physischen Leibe. So kann man ganz genau im einzelnen schildern (siehe: Schulung), wie es hergeht, wenn der Mensch meditativ und durch Selbsterziehung des Willens seine Erkenntniskräfte zum Behuf der Erkenntnis übersinnlicher Welten verstärkt.

Dadurch kommt der Mensch dazu, gewisse Zustände zu entwickeln, die nun nicht schlafend sind, wenn er außerhalb des Leibes ist, sondern das darstellen, was ich die Kontinuität des Bewußtseins genannt habe. Der Mensch geht mit seinem selbständigen seelischen Wesen im höheren Erkennen wirklich aus seinem Leibe heraus. Er erkennt dieses Herausgekommensein dadurch, daß er den Gedankenspiegel jetzt nicht an sich, sondern außer sich hat. Der Mensch geht aus dem Leibe heraus, aber er bleibt durchaus seiner selbst bewußt, er kann immer wieder zurückkehren, er ist keiner, der halluziniert, der sich Visionen hingibt, sondern mit mathematischer Sicherheit den ganzen Vorgang verfolgt, der sich hier abspielt. Dadurch, daß der Mensch in dieser Weise den Vorgang verfolgen kann, kann er nun auch zurück das gewöhnliche irdische Leben beurteilen. Er lernt nicht nur das Einschlafen, das Herausgehen aus dem Körper kennen, er lernt jetzt ganz willkürlich in seinen Körper mit der selbständigen Seele untertauchen. Das macht noch einen besonderen Eindruck, wenn der Mensch einmal seine selbständige Seele erlebt hat und dann untertaucht, der Körper ihn wieder gefangen nimmt. Da hört dasjenige auf, was man selbständig als geistig-seelische Welt um sich hat. Man fühlt es wie abschwinden, und man fühlt, wie man absorbiert wird, indem man wieder untertaucht in den Körper. Man lernt ebenso das Herausgehen aus dem Körper kennen, indem man sieht, wie die Gedanken sich von einem entfernen, wie die beim Körper bleiben, und wie man mit dem fühlenden und wollenden Wesen der Seele aus dem Körper herausgeht. Man fühlt aber in dem Momente, wo man herausgeht, die geistige Welt auftauchen. Jetzt hat man kennengelernt auf dem Umwege durch das Aufwachen und Einschlafen das Geborenwerden und Sterben. Wie er des Morgens unbewußt wird, so wird er heller bewußt, wenn er nach stattgehabten Übungen aus seinem physischen Leibe herausgeht. Das ist, was man nun erlebt im vollen Bewußtsein als eine Vorausnahme des Vorganges, der im Tode eintritt, und dessen, was man erlebt, wenn man untertaucht aus der geistigen Welt in den physischen Leib. Wenn die Gedanken wiederum verschwinden draußen, wenn sie sich wiederum als bloße Bilder, als Unwirklichkeiten in der Persönlichkeit geltend machen, da lernt man den Moment des Geborenwerdens kennen. [2]

Bei den meisten Menschen ist das Traumleben (nur) ein wüstes Durcheinanderwogen. Das hört aber vollständig auf, wenn wir uns eine Zeit lang dem meditativen Leben hingegeben haben. Dann gewinnen die Träume eine tiefe, symbolische Bedeutung. In der Regelmäßigkeit, in der Schönheit der Träume liegt ein Barometer für die Gedankenkontrolle. Wenn dann unsere Träume anfangen, regelmäßig zu werden, zu kleinen Dramen mit einer Entwicklung und regelmäßigen Handlungen werden, dann ist dasjenige tätig, was wir unser wahres inneres Geistesleben nennen. Dann wird Ihnen etwas auffallen, was sehr bald eintritt bei denjenigen, die einige Zeit im Meditieren, im inneren Geistesleben zubringen. Es wird Ihnen auffallen, daß Sie sich in einer ganz anderen Weise an Ihre Träume erinnern, als es sonst der Fall war. Das ist jene Kontinuität des Bewußtseins, die immer mehr eintritt, je weiter der Mensch sich entwickelt, und die so eintritt, daß Sie sich in Ihrem Selbst gegenständlich werden. Solange Sie sich ganz mit dem Körper identifizieren, solange es nicht der Geist ist, mit dem Sie eins geworden sind, so lange können Sie nicht, wenn Sie entkörpert sind, das heißt im Schlafzustande, ein Bewußtsein entwickeln. Daher der bewußtlose Zustand des größten Teiles der Menschheit während des Schlafes. Erst ganz langsam tritt eine solche Kontinuität des Bewußtseins ein, daß Sie eben wach sind im Schlafe, wie Sie wach sind im physischen Körper und daß Sie dieses Wachbewußtsein wieder herüberbringen in das alltägliche Wachbewußtsein. Da haben Sie einen Maßstab, etwas, an dem Sie einen Barometer gewinnen können gegenüber dem physischen Leben. [3]

Wenn man gleich nach dem Erwachen des Morgens – man darf aber möglichst noch keinem anderen Gedanken Einlaß gewährt haben – versucht zurückzutauchen in die geistigen Welten, aus denen man kommt, indem man seine Seele leer macht und sich in seine Meditation versenkt, so kann man dadurch wieder den Anschluß und die Rückerinnerung an seine nächtlichen Erlebnisse in den geistigen Welten erreichen. [4] (Siehe auch: Gedächtnisschleier und okkulte Erlebnisse).

Zitate:

[1]  GA 13, Seite 322f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[2]  GA 79, Seite 97ff   (Ausgabe 1962, 274 Seiten)
[3]  GA 266/1, Seite 32f   (Ausgabe 1995, 622 Seiten)
[4]  GA 266/2, Seite 191f   (Ausgabe 0, 0 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 79:  Die Wirklichkeit der höheren Welten. Einführung in die Anthroposophie (1921)
GA 266/1:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band I (1904-1909)
GA 266/2:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band II (1910-1912)