Kentaur

Nur umgebildet, verwandelt, metamorphosiert worden ist unser physischer Leib während der Erdentwickelung. Vieles von ihm war bereits nicht nur in der Anlage, sondern auch in der Entwickelung, in der Ausbildung während der alten Mondenentwickelung vorhanden. Was während der Erdentwickelung hinzugekommen ist, davon sieht man eigentlich, wenn man «sehen» im wahren Sinne des Wortes nimmt, nicht viel. Eigentlich hat sich während der Erdentwickelung nur die Lage geändert: Wir sind aufrechte, senkrecht auf der Oberfläche der Erde wandelnde Wesen geworden.

Kentaur So können wir geisteswissenschaftlich sagen: Das Bild des Kentauren, Mensch und Pferd, oder überhaupt Mensch und irgendeine Tierform, das soll eigentlich imaginativ darstellen den menschlichen physischen Leib, wie er sich herausstellen würde, wenn man hinzudenkt zu seiner jetzigen aufrechten Lage das, was der Mensch war während der Mondenentwickelung, wo er nicht diese aufrechte Lage hatte. In solchen Bildern, in solchen Imaginationen, die die Mythologie erhalten hat, liegen eben unendlich tiefe Weisheiten verborgen. [1]

Je weiter man zurückgeht in der Menschheitsentwickelung, desto mehr erschaut man auch, daß gewissermaßen erhalten geblieben ist für den hellseherischen Blick in der Anschauung unseres Selbstes während des Schlafes, während der Nacht, unsere Gestalt, unsere Form der Vorzeit. Und so kommt es auch, daß der Mensch, wenn er hinblickt auf sich selber, seine physische Körperlichkeit kennenlernt in einer unendlich viel feineren man möchte sagen – ätherischen Körperlichkeit. Seine Gestalt ist eher ähnlich einem lebhaften Traumbild als der Gestalt aus Fleisch und Blut, als welche sich der Mensch heute erscheint. So müssen wir uns bekannt machen mit der Vorstellung, daß Selbst und astralischer Leib, wenn sie außerhalb der menschlichen Wesenheit sind, das Haupt kaum sehen. Das wird ganz schattenhaft; es löscht nicht vollständig aus, aber es wird ganz schattenhaft. Dagegen wird deutlicher die übrige Organisation des Menschen. Sie wird auch schattenhaft, aber sie wird so, daß der Mensch sich zwar nicht wie aus Fleisch und Blut vorkommt, aber den deutlichen Eindruck hat, er habe eine mächtigere Organisation, so daß man ganz an die Gestalt des Kentauren erinnert wird. Nur ist dasjenige, was da nach oben als menschliche Fortsetzung am Kentauren erscheint, Menschenantlitz zeigt, eben ganz schattenhaft; das dagegen, was nicht übereinstimmt mit irgendeiner tierischen Form von heute, was aber erinnert in gewisser Beziehung an tierische Formen, das gewinnt Macht, und man sagt sich: Für den geistigen Anblick ist dieses stärker, dichter sogar als die heutige Gestalt aus Fleisch und Blut.

In einem anderen Entwickelungspunkte würden wir auf die Sphinx-Gestalt kommen. Nächtlich also werden wir eine sehr eigentümliche Gestalt. Wenn wir nun diese an eine tierische Wesenheit uns erinnernde Fortsetzung nach unten ins hellseherische Auge fassen, dann lernen wir etwas kennen, wovon wir einen ganz bestimmten Eindruck gewinnen. Die Impressionen, diese inneren Erlebnisse sind eigentlich das Wesentliche. Die Bilder sind wichtig, aber die inneren Erlebnisse sind das noch Wichtigere. Man gewinnt einen gewissen Eindruck, so daß man nachher weiß: Das, was dich eigentlich bei Tag zu deinen bloß persönlichen Interessen treibt, was dir bloß persönliche Interessen einimpft in deine Seele, das kommt von dem, was du nachts als deine gleichsam tierische Fortsetzung siehst. Bei Tag siehst du sie nicht; aber sie sind in dir als Kraft. Das sind die Kräfte, welche dich gewissermaßen hinunterziehen und zu den persönlichen Interessen verführen. – Und wenn man diese Impression immer mehr und mehr ausbildet, dann kommt man dazu, zu erkennen, wer eigentlich in unserer Evolution real Luzifer ist. [2] Je weiter wir nämlich den hellseherischen Blick zurückwenden gegen die Zeit, der die Paradieses-Imagination entspricht, desto schöner wird das Gebilde, das eigentlich erst für die spätere Zeit ans Tierische erinnert. Und wenn wir gar zurückgehen ins Paradiesische, wo die Sache sich so ausnimmt, daß die tierische Fortsetzung des Menschen von dem Menschen selber wie losgerissen und vervielfältigt ist in Stier, Löwe, Adler, da dürfen wir sagen, daß diese Gestalten, die wir mit diesen Namen aussprechen für jene alten Zeiten, uns in gewisser Beziehung auch sein können die Sinnbilder der Schönheit. Immer schöner und schöner werden diese Gestalten. Und gehen wir dann noch weiter zurück in die Zeit, dann kommen wir zurück in die Zeit, in welcher uns sozusagen Luzifers wahre Gestalt erscheint in hehrer Schönheit, nur so, wie er sich bewahren wollte in der Evolution vom alten Mond herüber zur Erde. [3]

Die Menschen vor dem 8. vorchristlichen Jahrhundert waren so, daß sie noch einen lebendigen Zusammenhang hatten mit ihrer vorhergehenden Inkarnation. Wenn sie nicht gerade zu den hebräischen Sprachstämmen gehörten – da war es etwas anders –, aber wenn sie zu dem weiten Kreise der sogenannten heidnischen Völkern gehörten, so war es so, daß dasjenige, was sie in ihrer Seele erlebten, durchaus für sie das Ergebnis war vorhergehender Inkarnationen, und daß ihnen deutlich bewußt war, daß, was sie in ihrer Seele erlebten, das spirituelle Erlebnis geistiger Welten war. Für solche Menschen war kein Zweifel darüber, daß der größte Teil dessen, was sie waren, nicht vererbt war von Vater und Mutter, sondern heruntergestiegen war aus geistigen Welten und sich mit dem vereinigt hatte, was von Vater und Mutter stammte. Eigentlich stellten alle Menschen sich als Kentauren vor; über das, was aus fleischlicher Vererbung entstanden, hatte sich darüber gestülpt dasjenige, was heruntergestiegen war aus der geistigen Welt. [4]

Die Eindrücke der Sinne, man kann sie sich vorstellen, als ob sie sich wie ein Teppich vor uns ausbreiteten. Natürlich, diesen Teppich müssen wir uns besetzt denken auch mit den Gehörseindrücken, mit allen Eindrücken der zwölf Sinne. Dieser Sinnesteppich deckt gewissermaßen eine hinter ihm liegende Wirklichkeit zu. Diese dürfen wir uns nicht so vorstellen, wie etwa der Naturforscher sich die Atomenwelt vorstellt, oder wie eine gewisse philosophische Richtung vom Ding an sich spricht, sondern einem hinter der Sinneswahrnehmung liegenden Geistigen, in dem wir selber eingebettet sind, an das aber des Menschen gewöhnliches Bewußtsein, das er zwischen der Geburt und dem Tode trägt, nicht reicht.

In dem Augenblicke, wo wir den Sinnesteppich gewissermaßen enträtseln würden auf einer ersten Stufe, so daß wir nach außen mehr sehen würden als die Mannigfaltigkeit der Sinnesimpulse – was würden wir da auf dieser ersten Stufe der spirituellen Enträtselung des Sinnesteppichs sehen? Was man da zunächst sieht, ist eine Summe von Kräften, die alle darauf ausgehen, unser gesamtes Leben zu impulsieren von der Empfängnis bis zum Tode. Nicht in den einzelnen Ereignissen würden wir unser Leben sehen, wenn wir den Sinnesteppich enträtseln, aber in seiner ganzen Artung. Nicht irgend etwas ganz Fremdartiges würden wir zunächst finden, uns selbst würden wir finden auf der ersten Stufe der Enträtselung der Sinneswahrnehmungen – aber uns selbst nicht, wie wir in diesem Augenblicke sind, sondern uns selbst so, wie wir geartet sind dieses ganze Leben zwischen der Geburt und dem Tode. Dieses Leben, das nicht in unseren physischen Leib hereinspielt, daher auch nicht mit physischen Sinnen wahrgenommen werden kann, dieses Leben spielt in unseren Ätherleib herein, dieser ist im wesentlichen ein Ausdruck dieses Lebens, das wir überblicken würden, wenn wir die Sinne, die Sinneswahrnehmungen ausschalten würden.

Würde gewissermaßen der Sinnesteppich zerreißen – und er zerreißt, wenn der Mensch zum Schauen aufsteigt –, so findet sich der Mensch selbst, so wie er geartet ist für diese Erdeninkarnation. Aber wie gesagt, die Sinne sind nicht geeignet, dies wahrzunehmen. Was ist geeignet, dies wahrzunehmen? Der Mensch hat es schon, aber er hat es in einer solchen Entwickelungsstufe, daß von einem wirklichen Wahrnehmen gegenwärtig noch nicht die Rede sein kann. Was da wahrgenommen würde, das dringt in kein Auge, kein Ohr, dringt nicht in Sinnesorgane, sondern wird eingeatmet, mit dem Atem eingesogen. Und das, was unserer Lunge ätherisch zugrunde liegt – von der physischen Lunge kann ja dabei gar nicht die Rede sein, denn die Lunge ist, so wie sie ist, kein unmittelbares Wahrnehmungsorgan –, was ätherisch unserer Lunge zugrunde liegt, das ist eigentlich Wahrnehmungsorgan, aber für den Menschen zwischen Geburt und Tod nicht brauchbares Wahrnehmungs-organ desjenigen, was da eingeatmet wird. [5]

In der Atemluft, die wir einsaugen, liegt eigentlich in bezug auf jeden Atemzug, wie er sich einfügt in den Gesamtrhythmus des Lebens von der Geburt bis zum Tode, unsere tiefere Wirklichkeit. Es ist nur so eingerichtet, daß das, was dem ganzen Lungensystem zugrunde liegt, beim Menschen auf dem physischen Plan unausgebildet ist, nicht vorgeschritten ist bis zu der Fähigkeit, wahrzunehmen. Würde das, was eigentlich unser Lungensystem aufbaut, was da ätherisch zugrunde liegt, untersucht und richtig erkannt, dann stellte es sich im Grunde genommen als ganz dasselbe dar, was physisch, für die physische Welt, unser Gehirn mit den Sinnesorganen ist. In dem, was unserem Lungensystem zugrunde liegt, haben wir ein Gehirn auf einer früheren Entwickelungsstufe. Und Sie stellen nicht falsch vor, wenn Sie sich denken, daß außer dem physischen Kopf, den der Mensch trägt, noch ein ätherischer Kopf vorhanden ist, der nur noch nicht als Wahrnehmungsorgan im gewöhnlichen Leben brauchbar ist, der aber in der Anlage Wahrnehmungs-vermögen hat für das, was hinter dem Ätherleib, als diesen Ätherleib schaffend, liegt, dasjenige, in das wir eintreten, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Den Ätherleib legen wir dann ab, aber was ihn schafft (die Bildekräfte), was ihn produziert, in das treten wir ein. [6]

So sind wir hineingestellt in den ganzen sichtbaren Kosmos, dem nun der unsichtbare Kosmos zugrunde liegt. In diesen unsichtbaren Kosmos treten wir ein, wenn wir durch die Pforte des Todes treten. Rhythmisches Leben ist dasjenige Leben, das unserem Gefühlsleben zugrunde liegt. In das rhythmische Leben des Kosmos treten wir ein in der Zeit, die wir durchleben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Dieses rhythmische Leben liegt als unser ätherisches Leben bestimmend hinter dem Sinnesteppich ausgebreitet. Sehen würde man in dem Augenblicke, wo man zum schauenden Bewußtsein kommt, diesen Weltenrhythmus, der gewissermaßen ein rhythmisch wogendes Weltenmeer ist, jetzt astralisch geartet. Und in diesem rhythmisch wogenden astralischen Meere sind auch die sogenannten Toten vorhanden, sind die Wesenheiten der höheren Hierarchien vorhanden, ist dasjenige vorhanden, was zu uns gehört, was aber unter der Schwelle liegt, aus der nur die Gefühle heraufwogen, die verträumt werden, die Willensimpulse heraufwogen, die in ihrer eigenen Wirklichkeit verschlafen werden. [7] (Siehe auch: Selbst höheres).

Ein Kopf ist es allerdings, den wir da in uns tragen als den Kopf eines zweiten Menschen, ein Kopf ist es – aber was zu diesem Kopf gehört, ist auch ein Leib, der ist zunächst ein Tierleib. Einen richtigen Kentaur. Der Kentaur ist schon eine Wahrheit. Er ist eine ätherische Wahrheit. Das Bedeutsame ist das, daß in dieser Wesenheit eine verhältnismäßig große Weisheit spielt, eine Weisheit, die sich auf den ganzen kosmischen Rhythmus bezieht. Dieser Kopf ist viel weiser als unser physischer Kopf. Alle Menschen tragen einen sehr weisen anderen Menschen, eben den Kentaur, in sich. Aber zugleich ist dieser Kentaur, trotz seiner Weisheit, ausgerüstet mit allen wilden Instinkten der Tierheit.

Kentaur, Malerei der kleinen Kuppel

Jetzt werden Sie die weise Weltenlenkung verstehen. Sie konnte nicht dem Menschen ein Bewußtsein geben, das auf der einen Seite mächtig ist und den Weltenrhythmus durchschaut, aber auf der andern Seite ungebändigt ist, in wilden Trieben lebend. Aber was in der einen Inkarnation tierisch ist an diesem Kentaur, das wird (für die) nächste Inkarnation gebändigt, indem er durch die Welt des Weltenrhythmus durchgeht zwischen Tod und neuer Geburt. Was unserem Lungensystem in der gegenwärtigen Inkarnation zugrunde liegt, was da verborgen wird, das erscheint als Ihr physischer Kopf, der dann allerdings herabgedämpft ist zu seinem beschränkten sinnlichen Wissen, und es erscheint in der nächsten Inkarnation als der ganze Mensch nun auch den wilden Trieben nach gebändigt. Was Kentaur ist in dieser Inkarnation, ist der sinnlich wahrnehmende Mensch in der nächsten Inkarnation. Jetzt werden sie auch begreifen, warum ich gesagt habe, daß der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt als unterstes Reich, das tierische Reich hat, in dessen Kräften er Meister werden muß. Er muß daran teilnehmen, den Kentauren, das Tierische in ihm für die nächste Inkarnation ins Menschliche umzuwandeln. [8]

Zitate:

[1]  GA 169, Seite 83   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)
[2]  GA 145, Seite 156f   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[3]  GA 145, Seite 158   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[4]  GA 191, Seite 107f   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[5]  GA 179, Seite 71ff   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[6]  GA 179, Seite 73   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[7]  GA 179, Seite 76   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[8]  GA 179, Seite 77f   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)

Quellen:

GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 179:  Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)