Kausalität

Um von einem Dinge eine Ursache oder einen Komplex von Ursachen angeben zu können, ist viel mehr notwendig, als bloß gewissermaßen den Faden von Ursache und Wirkung zu verfolgen. Bei der Ursache kommt es eben darauf an, daß sie nicht bloß Ursache ist, sondern daß sie auch etwas verursache. Es ist ein Unterschied zwischen «Ursache sein» und «verursachen». In Wirklichkeit handelt es sich (bei der Kausalität) nicht darum, daß Ursachen da sind, sondern daß sie etwas verursachen. Begriffe, die solcherart bestehen, brauchen noch nicht der Wirklichkeit zu entsprechen, sondern man kann sich mit ihnen einer großen Phantasie hingeben. Grundverschieden davon ist Goethes Weltanschauung, die nicht zu den Ursachen geht, sondern zu den Urphänomenen. Das ist etwas ganz anderes. Denn Goethe führt irgend etwas, was als Erscheinung, das heißt als Phänomen in der Welt existiert – sagen wir, daß sich im Prisma gewisse Farbenserien zeigen –, das führt er zurück auf das Urphänomen, auf die Zusammenwirkung von Materie und Licht, oder wenn wir die Materie als Repräsentant vom Dunklen nehmen, auf Dunkelheit und Licht. Genau so geht er auf das Urphänomen der Pflanze, des Tieres und so weiter ein. Das ist eine Weltanschauung, die sich den Tatsachen stellt und nicht bloß logisch, an dem Faden der Logik die Begriffe weiterspinnt, sondern die Tatsachen so gruppiert, daß sie eine Wahrheit aussprechen. Wir müssen die Erscheinungen nehmen und sie nicht so gruppieren, wie sie in der Natur da sind, sondern so, daß sie uns ihre Geheimnisse aussprechen. Aus den Phänomenen das Urphänomen zu finden, das ist das Wesentliche. [1]

Nicht aus der Wiederholung der Tatsachen, sondern aus der innerlich erlebten Konstruktion der Tatsachen erfahren wir etwas über das Wesen der Dinge. Es war ein Grundirrtum der neueren Erkenntnistheorie, anzunehmen, daß wir durch das Zusammenfassen der Tatsachen irgend etwas wie die Naturgesetze gewinnen können. [2] Man muß, wenn man eine Ursache studiert und sie mit ihrer Wirkung im Zusammenhang faßt, nicht bloß fragen nach dem Wesen der Ursache, denn damit hat man noch gar nichts getan, sondern danach muß man fragen, ob die Ursache auch wirklich verursacht, und darauf kommt es an. Nun hat alle Philosophie das Eigentümliche, daß sie am Gedankenfaden fortgeht, ein Glied aus dem anderen entwickelt, also gleichsam in dem Vorderen schon das Nachfolgende sucht. So haben sie recht als Philosophien. Aber man kommt dabei niemals auf dasjenige Verhältnis, welches sich ergibt, wenn man berücksichtigt, daß die Ursache gar nicht zu verursachen braucht. Die Ursache kann ihrem Wesen nach, in ihrem Wesen dasselbe sein, ob sie als Ursache etwas verursacht oder nicht. Das ändert nichts in dem Wesen der Ursache.

Und dieses Bedeutungsvolle ist uns hingestellt in dem Symbolum von Gottvater und Gottsohn: daß der Christus hinzukommt als freie Schöpfung zu dem Vatergott, als eine Schöpfung, die nicht unmittelbar aus ihm folgt, sondern die sich als freie Tat neben die vorhergehende Schöpfung hinstellt; die auch die Möglichkeit hätte, nicht zu sein. Der Sohn ist der Welt gegeben als eine freie Tat, durch Gnade, durch Freiheit, durch Liebe, die sich frei gibt in ihrer Schöpfung. Deshalb kann man niemals durch dieselbe Art von Wahrheit, durch die man zu dem Vatergott kommt wie die Philosophen, auch zum Sohnesgott, zu dem Christus kommen. Um zum Christus zu kommen, ist notwendig, daß man zu der philosophischen Wahrheit die Glaubenswahrheit hinzufügt, oder – weil die Zeit des Glaubens immer mehr und mehr abnimmt – die andere Wahrheit hinzunimmt, die durch hellseherische Forschung kommt, die sich als eine freie Tat ebenfalls erst in der menschlichen Seele entwickeln muß. [3]

Zitate:

[1]  GA 164, Seite 131ff   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[2]  GA 164, Seite 137   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[3]  GA 153, Seite 140   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)

Quellen:

GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)