Katholische Kirche

Immer wird das, was das Leben ist, umfaßt als Form von dem, was als Leben in einer früheren Zeit vorhanden war. Beispiel: die katholische Kirche. Das Leben, das in der katholischen Kirche lebt von Augustinus bis ins 15. Jahrhundert, ist christliches Leben. Das Leben darinnen ist Christentum. Immer wieder kommt dieses pulsierende Leben heraus – Beispiel: Mystiker. Die Form ist nichts anderes als das Leben des alten römischen Reiches. Das, was in diesem alten römischen Reich noch Leben war, ist erstarrt zur Form. Was da gelebt hat in seinen äußeren Erscheinungen als römischer Staat, das hat sein zur Form erstarrtes Leben abgegeben an das spätere Christentum bis hin zur Hauptstadt. Was früher Leben war, wird später Form für eine höhere Stufe des Lebens. [1]

Die südlichen Völker, die italienisch-spanische Bevölkerung stellt in dem, was sie an Reichen hervorgebracht hat, eine Art Nachwirkung dar des dritten nachatlantischen Zeitraumes, selbstverständlich mit Eingliederung der ganzen Erbschaft des vierten Zeitraumes. Namentlich in der Art und Weise, wie von Rom und Spanien ausgehend, sich der aus dem Ägyptisch-Chaldäischen entlehnte Kultus als Religion geltend macht, haben Sie das Herüberleben des zurückgebliebenen Ägyptisch-Chaldäischen, das dann im 13. Jahrhundert seinen Höhepunkt erlangte. Dieses kultisch-hierarchische, kirchliche Element, zu dem sich das Römertum in dem nach Europa einströmenden romanischen Katholizismus umgewandelt hat, ist einer der Impulse, welche nachwirken wie zurückgebliebene Impulse durch den ganzen fünften nachatlantischen Zeitraum. Sie haben also mit etwa 1415 anfangend die Hauptwirkung bis 2135, so daß die letzten Fluten des hierarchischen Romanismus bis in den Beginn des dritten Jahrtausends hinein dauern werden. Seinen eigentlichen Höhepunkt hat ja der romanische Katholizismus eben schon im 13., 14. Jahrhundert gehabt. Es besteht das Bestreben, von Rom aus mit diesem hierarchischen Kirchenelement die Kultur Europas bis zu jenem Wall, den sie sich selbst geschaffen hat in Osteuropa, zu durchtränken, ganz zu durchsetzen. – Aber merkwürdigerweise nimmt eine solche Bestrebung, wenn sie ein zurückgebliebener Impuls wird, einen äußerlichen Charakter an. Sie hat nicht mehr die Kraft, innerliche Intensität zu entwickeln. Sie ergießt sich gewissermaßen in die Breite und hat keine Kraft, in die eigene Tiefe zu gehen. [2]

Daher sehen wir das Merkwürdige, daß der römische Hierarchismus immer extensiver wird, immer mehr in die Breite geht, daß er aber in den Ländern, von denen er ausstrahlt, die eigene Bevölkerung unterhöhlt, daß er keine Innerlichkeit gibt. Denken Sie, was für ein sonderbares Christentum in Italien lebte, als das Papsttum im höchsten Glanze stand. Es ist das Christentum, gegen das die Donnerworte des Savonarola geprägt worden sind. In einzelnen Individualitäten wie in Savonarola lebte allerdings der Christus-Impuls; aber diese Individualitäten fanden sich genötigt, das offizielle Christentum in Grund und Boden zu bohren. Die Macht des romanischen Kirchenelementes ging in die Weite, aber das christliche Gemüt ist im Ausgangspunkte der Ausstrahlung selber unterhöhlt worden. Das könnte man bis ins einzelne nachweisen, und es ist eine bedeutsame Wahrheit: Im Ausstrahlen vernichtet sich die Sache in sich selber. Es ist der Gang des Lebens. So wie der Mensch, indem er älter wird, an seinen Kräften zehrt, so zehren auch die Kulturerscheinungen, indem sie sich ausbreiten, an ihrer eigenen Wesenheit und unterhöhlen sich. [3]

Der Katholizismus hat ein festgefügtes, knochenstarkes Glaubensgebäude, das von den Naturprinzipien ausgeht und sich hinaufarbeitet, das sich von unten aufbaut und zu einer umfassenden Weltanschauung gelangt, die der Mensch dann mit seiner Seele vereinigen kann, wenn auch die höheren Gebiete als die bloß geoffenbarten Wahrheiten anerkannt werden. Was aber der Katholizismus in sich trägt, das ist, daß er im Grunde genommen doch nichts anderes als das letzte Überbleibsel derjenigen alten Weltanschauungen ist, welche ganz darauf gebaut waren, nicht über die Schwelle (der geistigen Welt) zu kommen in jenes Gebiet, in dem die moderne Menschheit eigentlich drinnen steht. [4] Und so steht der Katholizismus da wie ein architektonisch großartig aufgeführtes Gebäude, das aber aus alten Zeiten herüberragt, in denen noch nicht gerechnet worden ist mit dem, was nun doch hereinkommen muß in die ganze Entwickelung durch die moderne Naturwissenschaft, durch die moderne Begriffswelt und durch dasjenige, was schon hereingekommen ist und was hereinkommen muß durch die sozialen Begriffe, die wir aufnehmen.

Wenn der Katholizismus die einzige Lehre sein sollte, welche sich über die Menschheit verbreitet, dann könnte die Erde in ihrer Entwickelung auch heute aufhören, denn der Katholizismus rechnet nur mit demjenigen, was sozusagen bis zum 14., 15. Jahrhundert der Menschheitsentwickelung eigen war. [5]

Im Grunde genommen handelt der Katholizismus noch gar nicht von dem Christus, er handelt nur von dem Jesus. Und die modernen evangelischen Bekenntnisse sind ihm in dieser Beziehung durchaus nachgefolgt. Eine wirkliche Christologie ist noch nicht entstanden außerhalb der anthroposophischen Geisteswissenschaft. [6]

Durch die Geisteswissenschaft muß unbedingt herauskommen dasjenige, was des Menschen wahre Wesenheit ist, und was eigentlich auch des Menschen Verhältnis zu dem Christus ist. Dasjenige aber, worum es sich der Kirche immer mehr und mehr gehandelt hat, das war, den Menschen ja nicht zur Aufklärung kommen zu lassen über sein wahres Wesen und über sein Verhältnis zum Christus. Man kann sagen, die Entwickelung der abendländischen Konfessionen bestand eigentlich darinnen, einen immer stärkeren Schleier zu ziehen über das eigentliche Geheimnis des Christus.

Mit allen Institutionen geht es im Grunde genommen so, die auf äußere Abstraktion gebaut sind. So wie die Staatsmänner immer Gesetze machen, so machen die Kirchenmänner immer mehr und mehr Dogmen, und so wird endlich alles zum Dogma. Das Dogma konsolidiert sich zuletzt. Diese Konsolidierung des Dogmawesens ist besonders stark zu beobachten innerhalb der zivilisierten Menschheit der neueren Zeit erst nach der Hochscholastik, man wird finden, daß da noch alles über das Dogma flüssig ist, diskutiert wird, daß da noch durchaus die Diskussion als etwas Selbstverständliches angesehen wird. [7]

Diese freie Diskussion ist in der katholischen Kirche allmählich vollständig ausgeschlossen worden. Diese freie Diskussion, die konnte die katholische Kirche im Laufe der Zeit nicht vertragen, weil ein ganz neues Menschheitsbewußtsein heraufkam. Im Mittelalter hatte der Mensch eine Art Gemeinschaftsbewußtsein, und herausragen konnten nur die einzelnen am meisten unterrichteten Leute, die eigentlichen Scholasten, diejenigen, die sich herausentwickelt haben aus dem allgemein gleichförmigen Volksbewußtsein dadurch, daß sie ihre Lehre innerhalb der scholastischen Bildung – höchstens für gewisse Bruchteile kann man sagen: innerhalb der rabbinischen Bildung oder dergleichen – erhalten haben. Aber im übrigen war dasjenige, was Bewußtsein der Menschen war, gleichförmig, Gemeinschaftsbewußtsein, Gattungsbewußtsein. (Aber) immer mehr und mehr bildete sich das Individualbewußtsein heraus. Was die katholische Kirche immer gehabt hat, weil sie immer in ihrer Mitte hochgebildete Leute heranzog, das war, daß sie historische Voraussicht hatte. [8]

Die katholische Kirche weiß sehr gut, daß dasjenige, was ich jetzt sage, das Prinzip der neueren Entwickelung ist: das Individualbewußtsein der Menschen heraufzuziehen. Aber sie will es nicht heraufkommen lassen. Sie will das dumpfe Gemeinschaftsbewußtsein erhalten, aus dem nur herausragen diejenigen, die eine scholastische Bildung errungen haben. Es gibt ein gutes Mittel, dieses gemeinschaftliche, das dumpfe Bewußtsein zu erhalten – denn es ist immer ein dumpfes Bewußtsein –, und dieses Mittel besteht darin, daß man das gewöhnliche Bewußtsein, das der Mensch schon einmal hat, indem er sich seiner Sinne bedient, daß man dieses herabdämpft, richtig herabdämpft. Daher gehört es auch (wie beim Traum) zu der Anforderung des herabgedämpften Bewußtseins, dem Menschen die Möglichkeit zu nehmen, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Wenn man bewandert ist in einer solchen Sache, dann erzählt man den Leuten unter Autorität Dinge, die unwahr sind. Man macht das systematisch. Dadurch dämpft man ihr Bewußtsein bis zu der Dumpfheit des Traumbewußtseins herunter. Man will das Bewußtsein herabdämpfen, indem man den Menschen die Lüge beibringt. Es ist ein grandioses diabolisches Unternehmen. [9]

Dasjenige, was die katholische Kirche beabsichtigt, ist, die Verbindungs-brücke zu schaffen zwischen dem radikalsten Sozialismus, Kommunismus und ihrer Herrschaft. [10] Aus dem wirklichen Katholizismus des 8. Jahrhunderts ist die Sozialdemokratie geworden. Und dasjenige, was daneben als Katholizismus da ist, das ist nicht der wirkliche Katholizismus vom 8. Jahrhundert, sondern dessen Imitation, das ist der nachgemachte Katholizismus; denn der wirkliche Katholizismus ist mittlerweile zur Sozialdemokratie ausgewachsen. [11]

Wenn man als Mensch einem Menschen gegenübertritt, so soll man ja, will man den ganzen Menschen kennen, auch das Geistig-Seelische im Menschen, auf ein Geistig-Seelisches losgehen. Man kann aber nicht das Geistig-Seelische in den physischen Menschen finden, wenn man sich nicht erst den Sinn für das Geistig-Seelische durch das Denken im Übersinnlichen erworben hat. Wer den Umgang mit den Göttern scheut, dem kommt abhanden der Umgang mit dem überphysischen Menschen, mit den Menschen, die hier auf der Erde leben. Wir brauchen einfach den Umgang mit den Göttern, um den Umgang mit den Menschen in der rechten Weise vollenden zu können, und wir brauchen den Umgang mit den Göttern so, daß sich unser Geistig-Seelisches nach diesen Göttern hinwendet – nicht bloß unsere Gedanken, da werden wir pantheistisch oder so etwas –, sondern es muß sich unser ganzer Mensch hinwenden. Diese letzte Wahrheit hat in ihrer Art die katholische Kirche gut begriffen, denn was tut sie? Sie beschränkt sich nicht allein darauf, in dem Katechismus zu unterrichten, was man durch theologische abstrakte Begriffe den Menschen beibringen kann, sondern sie teilt das Altarsakrament aus als ein Sakrament, und sie bringt ihren Gläubigen getreulich bei, daß in dem Sanktissimum der wirkliche Christus enthalten ist, daß der Christus tatsächlich den Weg des sonst Verdaulichen geht, wenn das Altarsakrament genossen wird. Da lebt wirklich im Altarsakrament etwas von Urweltweisheit, von der Hingabe des ganzen Menschen an das Göttliche. Da lebt tatsächlich im Katholizismus etwas fort, was zu den urältesten Bestandteilen der Urweltweisheit gehört. Es lebt in alledem, was da, ich möchte sagen, als die Aura des Altarsakraments im Katholizismus sich ausbildet, da lebt der Impuls: Du sollst nicht nur in deinem Denken, in deinem abstrakten Denken dich zu der Gottheit hinwenden, du sollst zum Beispiel dich auch hinwenden mit derjenigen Sehnsucht, die in deinem Hunger lebt. Du gehst zu dem Gotte nicht nur, indem du denkst, du gehst zu dem Gotte, indem du am Altar speisest, und der Gott, der in der Materie lebt, nimmt durch deinen Körper hindurch den Weg, der alles Verdauliche nimmt. Du vereinigst dich ganz materiell mit deinem Gotte! – In dem Verbreiten dieser Gesinnung lebt das Geheimnis einer ungeheuren Macht. [12] (Siehe auch: Kirche).

Zitate:

[1]  GA 93, Seite 74f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[2]  GA 174, Seite 154ff   (Ausgabe 1966, 320 Seiten)
[3]  GA 174, Seite 156   (Ausgabe 1966, 320 Seiten)
[4]  GA 203, Seite 183   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[5]  GA 203, Seite 184   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[6]  GA 203, Seite 186f   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[7]  GA 198, Seite 122f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[8]  GA 198, Seite 124f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[9]  GA 198, Seite 125f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[10]  GA 198, Seite 126   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[11]  GA 191, Seite 190   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[12]  GA 198, Seite 278ff   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)

Quellen:

GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 174:  Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit – Zweiter Teil (1917)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 203:  Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921)