Karmische Reihen
► Tacitus und Plinius der Jüngere

Wir haben etwa in dem 1. Jahrhundert einen außerordentlich bedeutenden römischen Schriftsteller in Tacitus. Nun ist mit Tacitus befreundet gewesen diejenige Persönlichkeit, die in der Geschichte als der jüngere Plinius bekannt ist, der viele Briefe geschrieben hat und der ein großer Bewunderer des tacitischen Stiles war, so daß eigentlich dieser jüngere Plinius, der selber Schriftsteller war, ganz aufging in der Bewunderung des Tacitus. Dieser Plinius wird wiedergeboren im 11. Jahrhundert als eine Prinzessin von Tuscien. Diese Beatrix besitzt das Schloß Canossa. Als nun Heinrich IV. gerade seinen Bußgang nach Canossa unternehmen mußte, da war die Tochter der Beatrix, Mathilde, die Besitzerin von Canossa, und sie, die sehr gut mit ihrer Mutter stand, sie hatte eigentlich alle die Eigenschaften der Mutter auf sich vereinigt, war eigentlich eine noch vorzüglichere Frau. Vertieft man sich in das, so bekommt man das Merkwürdige: die Marktgräfin Beatrix ist der wiederverkörperte Plinius der Jüngere, und die Tochter Mathilde ist der wiederverkörperte Tacitus. Diese zwei Persönlichkeiten wachsen recht innig ineinander, Mutter und Tochter, und ihre alte Schriftstellerei befähigt sie in ihrem Unbewußten, die historischen Ereignisse in aller Intensität aufzufassen und dadurch instinktiv sehr verbunden zu werden mit dem Weltengang, sowohl in der Natur wie auch im geschichtlichen Leben. [1] Nun spielt sich in der späteren Zeit das Folgende ab. Wir sehen, wie der jüngere Plinius im 19. Jahrhundert wiedergeboren wird in romantischem Milieu, alles Romantische mit großer, man kann nicht sagen Begeisterung, aber mit großem ästhetischem Genuß aufnimmt, sich hineinfindet zunächst in alles Romantische, indem er auf der einen Seite eben diese Romantik, auf der anderen Seite durch die Verwandtschaft einen etwas gelehrten Stil hat – einen gelehrten Schreibstil –, aber der paßt nicht zu seiner Natur. Er will immer heraus, will immer diesen Stil wegwerfen. Diese Persönlichkeit ist einmal, wie das Schicksal es eben fügt, bei jemandem zu Besuch, blättert in einem auf dem Tische liegenden englisch geschriebenen Buche und wird ungeheuer gefesselt von dem Stil. Er wird Schriftsteller, wird Imitator dieses Stiles, natürlich künstlerischer Imitator, im allerbesten Sinne. Und sehen Sie, das Buch, das da aufgeschlagen war, das dann die Persönlichkeit dazu brachte, so schnell wie möglich alles zu lesen, was von diesem Schriftsteller zu haben war, dieses Buch war Emersons «Representative Men». Und der Betreffende eignet sich den Stil daraus an, übersetzt auch zwei Stücke daraus sofort, wurde ein ungeheurer Verehrer von Emerson und ließ nicht nach, bis er diese Persönlichkeit auch im Leben begegnen konnte. Und wir haben es zu tun bei der einen Persönlichkeit, die durch die Bewunderung zu der anderen Persönlichkeit wiederum erst sich selber fand, ihren eigenen Stil fand, wir haben es bei der Wiederverkörperung des jüngeren Plinius und der Markgräfin Beatrix zu tun mit Herman Grimm, und bei Emerson haben wir es zu tun mit dem wiederverkörperten Tacitus, der wiederverkörperten Marktgräfin Mathilde. In seiner Bewunderung für den Schriftsteller Emerson und in der ganzen Art, wie Herman Grimm Emerson begegnet, finden wir die Beziehung des jüngeren Plinius gegenüber dem Tacitus wieder. Und nun wird man erst begreifen, worinnen der große Stil Emerson beruht. Diejenigen Menschen, die Emerson besuchten fanden ja heraus, wie er arbeitete. Da war er in einem Zimmer, da waren viele Stühle, da waren mehrere Tische. Überall lagen aufgeschlagene Bücher, zwischen diesen ging Emerson spazieren. Er las manchmal einen Satz, nahm ihn auf: daraus bildete er dann seine, möchte man sagen, so großen, ausgreifenden, epigrammatischen Sätze, daraus bildete er dann seine Bücher. Und man hat genau das im Bild, was Tacitus im Leben hatte: Wie er überall hinkam, das betrachtete Emerson wiederum in Büchern. Es lebt alles wiederum auf. [2]

Zitate:

[1]  GA 236, Seite 59ff   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)
[2]  GA 236, Seite 61ff   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)

Quellen:

GA 236:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Zweiter Band (1924)