Karmische Reihen
► Wladimir Solowjew

Auf dem Konzil zu Nicäa war eine Persönlichkeit anwesend, die mit teilnahm an jenen Diskussionen, die aber über den Ausgang des Konzils in höchstem Grade verstimmt war, die vorzugsweise damals bemüht war, für beide Teile die Argumente aufzubringen. Diese Persönlichkeit brachte sowohl für den Arianismus wie für den Athanasianismus die bedeutsamsten Gründe auf, und wäre es nach dieser Persönlichkeit gegangen, so wäre ganz zweifellos etwas ganz anderes herausgekommen. Es wäre nicht eine Art fauler Kompromiß herausgekommen, sondern etwas wie eine Synthese, die wahrscheinlich etwas sehr Großes gewesen wäre, die dahin geführt hätte, das menschliche innere Göttliche viel intimer mit dem Göttlichen des Universums zusammenzuknüpfen. Diese Persönlichkeit ging tief unbefriedigt in eine Art ägyptische Einsiedelei, lebte in einer außerordentlich asketischen Weise, gründlich bekannt – damals im 4. Jahrhundert – mit alledem, was eigentlich die wirklichen, spirituellen Substanzen des Christentums dazumal waren; vielleicht einer der bestunterrichteten Christen, die es dazumal gab, aber nicht ein Kämpfer. Und so zog er sich in eine Art Einsiedelei zurück, wurde für den Rest seines Lebens ein Eremit. Das mystische Vertiefen dieser Persönlichkeit ging dahin, dahinterzukommen, von woher das Denken seine Inspiration bekommt. Wie in eine einzige, große Sehnsucht ging das: den Ursprung des Denkens in der geistigen Welt zu finden. Und ganz erfüllt wurde diese Persönlichkeit zuletzt mit dieser Sehnsucht. Sie starb auch mit dieser Sehnsucht, ohne daß sie während dieses damaligen Erdenlebens dadurch einen konkreten Abschluß gefunden hätte, daß Antwort dagewesen wäre. Dazumal war schon die Zeit doch ungünstig. [1] Und ohne daß ein Gedanke da war als Antwort auf diese Frage, sah diese Persönlichkeit gerade nach dem Tode in einer wunderbar hellen, imaginativen Art in die Intelligenz des Weltalls hinein. Nicht die Gedanken des Weltalls sah sie – die hätte sie gesehen, wenn das, was sie ersehnt hatte, zum Abschluß gekommen wäre –, nicht die Gedanken des Weltalls ersah sie, wohl aber in Bildern das Denken des Weltalls. Und so lebte sich durch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt hier eine Individualität, die in einer Art von Gleichgewichtszustand war zwischen mystischer imaginativer Anschauung und scharfsinnigem Denken von früher, das aber im Fluß war, das noch nicht zum Abschluß gekommen war. Zunächst siegte in dem, was sich da karmisch ausgestaltete, die mystische Anlage. Die betreffende Individualität wird im Mittelalter als eine Visionärin geboren, als eine Visionärin, die wunderbare Einblicke in die geistige Welt entwickelte. Die denkerische Anlage trat zunächst ganz zurück, das Anschauungsmäßige trat in den Vordergrund. Zur Zeit ihres Lebens kam diese Nonne, diese Visionärin, diese Seherin, in keinen Konflikt mit dem positiven Christentum. Aber sie wuchs heraus aus dem positiven Christentum; sie wuchs hinein in ein zunächst ganz persönlich geartetes Christentum, in ein Christentum, das es eigentlich auf Erden späterhin gar nicht gab. So daß dieser Persönlichkeit, ich möchte sagen, vom Weltenall die Frage gestellt war, wie dieses Christentum in einer neuen Inkarnation in einem physischen Leibe zu verwirklichen ist. Und gleichzeitig stellten sich jetzt, nachdem die betreffende Seherin, Visionärin, durch die Pforte des Todes schon seit längerer Zeit gegangen war, wiederum die Nachklänge des alten Intellektualismus, des inspirierten Intellektualismus ein. Die Nachwirkungen der Visionen wurden durchideeisiert, möchte ich sagen. Und auf der Suche nach einem Menschenleibe wurde diese Individualität die des Wladimir Solowjew. [2]

Zitate:

[1]  GA 238, Seite 128f   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[2]  GA 238, Seite 130f   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)

Quellen:

GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)