Wenn der Mensch durchgegangen ist durch die Pforte des Todes und durchlebt hat jene Zeit, in welcher er Rückschau halten kann auf das bisherige Erdenleben, durchlebt hat die Zeit bis zu dem Punkt, da er den Ätherleib abgelegt hat, wenn der Mensch übergeht in die Kamaloka-Zeit, dann tritt er vor zwei Gestalten hin, allerding gilt das nur für die Menschen des Abendlandes und für alle diejenigen Menschen, welche mit der Kultur dieses Abendlandes in den letzten Jahrtausenden einen Zusammenhang gehabt haben. Da tritt der Mensch nach seinem Tode zwei Gestalten gegenüber: Moses ist die eine – der Mensch weiß ganz genau, daß er Moses gegenübertritt –, der ihm vorhält die Gesetzestafeln, im Mittelalter nannte man es «Moses mit dem scharfen Gesetz», und der Mensch hat ganz genau in seiner Seele das Bewußtsein, inwiefern er bis in das Innerste seiner Seele abgewichen ist von dem Gesetz. Die andere Gestalt ist diejenige, die man nennt «den Cherub mit dem feurigen Schwert», der da entscheidet über diese Abweichung. Das was da dem Menschen gegenübertritt durch diese zwei Gestalten stellt gewissermaßen das karmische Konto fest. Diese Tatsache geht in unserer Zeit einer Änderung entgegen: Es wird in unserem Zeitalter der Christus der Herr des Karma für alle diejenigen Menschen, die das eben Besprochene nach ihrem Tode durchgemacht haben. Es tritt der Christus sein Richteramt an. Nehmen wir an, irgendein Mensch hätte dieses oder jenes Böse getan, so muß er ein Gutes tun, welches ausgleicht das Böse. Aber dieses Gute, das kann er in zweifacher Weise tun, so daß es vielleicht für ihn die gleiche Anstrengung bedeutet, wenn es nur wenig Menschen zugute kommt oder so, daß es für ihn die gleiche Anstrengung bedeutet, wenn es vielen Menschen zum Heile gereicht. Daß unser karmisches Konto in der Zukunft so ausgeglichen wird, das heißt in eine solche Weltordnung hineingestellt wird gegen die Zukunft, wenn wir den Weg zum Christus gefunden, daß die Art unseres karmischen Ausgleichs das größtmöglichste Menschenheil für den Rest der Erdentwickelung hervorrufe, das wird die Sorge Christi sein. Mit dieser Übertragung des Richteramtes über die menschlichen Taten an den Christus ist aber verknüpft, daß dieser Christus auch unmittelbar eingreift in die menschlichen Geschicke. [1]
Die Menschen werden nach und nach die Fähigkeit erringen, den karmischen Ausgleich, die ausgleichende Tat, die in der Zukunft geschehen muß, zu schauen wie im Traumbilde. [2] Die Menschen werden, je mehr wir uns der Zukunft nähern, lernen, daß sie mit dem Christus vereinigt waren vor der Geburt, daß sie von ihm die Gnade erlebt haben, ihr altes Karma in den Inkarnationen abzutragen. So schauten die Menschen des vierten nachatlantischen Zeitraumes zu dem Jesus von Nazareth auf als zu dem Träger des Christus. So werden die Menschen unserer Zeit lernen, daß der Christus immer übersinnlicher sich offenbaren wird und immer mehr regieren wird die Karmafäden in den Angelegenheiten der Erde. Sie werden kennenlernen jene geistige Macht als jenes Schicksal, das die Griechen noch nicht erkennen konnten: das die Menschen dazu bringen wird, auf die angemessenste Weise in der nächstfolgenden Inkarnation ihr Karma auszutragen. Als zu einem Richter, als zu einem Herrn des Karma werden die Menschen in der Aufeinanderfolge der Inkarnationen aufschauen zu dem Christus, wenn sie ihr Schicksal erleben. So werden die Menschen zu ihrem Schicksal stehen, daß sie dadurch angeregt werden, ihre Seelen immer mehr zu vertiefen, bis sie sich sagen können: Mir wird dies Schicksal nicht zuerteilt durch eine unpersönliche Macht, mir wird dies Schicksal zuerteilt durch dasjenige, mit dem ich mich verwandt fühle in meinem innersten Wesen. Im Karma selbst nehme ich wahr, was mit meinem Wesen verwandt ist. Mein Karma habe ich gern, weil es mich besser und besser macht. So lernt man Karma lieben, und dann ist dies der Impuls, den Christus zu erkennen. [3]
Woraus ist eigentlich in unserer Erdentwickelung diese Wohltat entsprungen, daß es ein Karma gibt? Von keiner anderen Kraft kommt das Karma in der ganzen Entwickelung als von dem Christus. [4]
Wir müssen unterscheiden die Folgen einer Sünde für uns selbst, und die Folgen einer Sünde für den objektiven Weltengang. Wenn man anblickt die Zeit der Menschheitsentwickelung seit dem Mysterium von Golgatha, und man kommt, ohne durchdrungen zu sein mit der Christus-Wesenheit, an die Akasha-Chronik heran, so wird man sehr leicht irre. Denn in dieser Akasha-Chronik zeigen sich Aufzeichnungen, die sehr häufig nicht stimmen mit dem, was man in der karmischen Evolution der einzelnen Menschen findet. Nehmen wir an, im Jahre 733 meinetwillen habe irgendein Mensch gelebt und habe dazumal eine schwere Schuld auf sich geladen. Nun untersucht man die Akasha-Chronik, zunächst ohne daß man irgend etwas von einer Verbindung hat mit dem Christus. Und siehe da, man kann die betreffende Schuld nicht finden in der Akasha-Chronik. Geht man aber jetzt auf den Menschen ein, der weiter gelebt hat, und untersucht sein Karma, dann findet man: Ja, auf dieses Menschen Karma ist noch etwas, was er abzutragen hat; das müßte an einem bestimmten Zeitpunkt in der Akasha-Chronik darinnen stehen; es steht aber nicht darinnen. Das kommt davon her, daß der Christus tatsächlich auf sich genommen hat die objektive Schuld. In dem Augenblick, wo ich mich mit dem Christus durchdringe, wo ich mit dem Christus die Akasha-Chronik durchforsche, finde ich die Tatsache! Christus hat sie in sein Reich genommen und trägt sie als Wesenheit weiter. Es bleibt bestehen die karmische Gerechtigkeit, aber in bezug auf die Wirkungen einer Schuld in der geistigen Welt tritt der Christus ein, der diese Schuld in sein Reich hinübernimmt und weiterträgt. [5]
Durch das Karma wird die Tat des Christus ein kosmisches Gesetz, und durch das Christus-Prinzip, den geoffenbarten Logos, erreicht das Karma sein Ziel, nämlich die Befreiung der Seelen zum Selbstbewußtsein und ihrer Wesensgleichheit mit Gott. Das Schicksalsgesetz ist die stufenweise Erlösung, der Christus ist der Erlöser. [6]
Christus wird der Herr des Karma für die Menschheitsentwickelung. Und dies ist der Beginn für dasjenige, was wir auch in den Evangelien mit den Worten angedeutet finden: Er werde wiederkommen zu scheiden oder die Krisis herbeizuführen für die Lebendigen und für die Toten. Nur ist im Sinne der okkulten Forschung dieses Ereignis nicht so zu verstehen, als ob es ein einmaliges Ereignis wäre, das auf dem physischen Plan sich abspielt, sondern es hängt mit der ganzen zukünftigen Entwickelung der Menschheit zusammen. Und während das Christentum und die christliche Entwickelung bisher eine Art von Vorbereitung bedeutet, tritt jetzt das Bedeutsame ein, daß der Christus der Herr des Karma wird, daß ihm es obliegen wird in der Zukunft zu bestimmen, welches unser karmisches Konto ist, wie unser Soll und Haben sich zueinander verhalten. [7]
Einzureihen unseren karmischen Ausgleich dem allgemeinen Erdenkarma, dem allgemeinen Fortschritt der Menschheit, das fällt in Zukunft dem Christus zu. Und es geschieht im wesentlichen in der Zeit, in welcher wir zwischen dem Tode und einer neuen Geburt leben. – Die Epoche fängt an, in welcher die Menschen in dem Augenblick, wo sie eine Tat getan haben, eine Ahnung, vielleicht sogar ein deutliches Bild, eine Empfindung (davon) haben werden, wie der karmische Ausgleich dieser Tat sein wird. [8]
| [1] | GA 130, Seite 165f | (Ausgabe 1962, 354 Seiten) |
| [2] | GA 130, Seite 167 | (Ausgabe 1962, 354 Seiten) |
| [3] | GA 143, Seite 147f | (Ausgabe 1970, 248 Seiten) |
| [4] | GA 107, Seite 250 | (Ausgabe 1973, 328 Seiten) |
| [5] | GA 155, Seite 183f | (Ausgabe 1982, 252 Seiten) |
| [6] | GA 94, Seite 117 | (Ausgabe 1979, 312 Seiten) |
| [7] | GA 131, Seite 78 | (Ausgabe 1958, 244 Seiten) |
| [8] | GA 131, Seite 216 | (Ausgabe 1958, 244 Seiten) |
| GA 94: | Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906) |
| GA 107: | Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909) |
| GA 130: | Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912) |
| GA 131: | Von Jesus zu Christus (1911) |
| GA 143: | Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912) |
| GA 155: | Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914) |