Jakim und Boas

Brunetto Latini schildert, wie er hingeführt wird vor die Göttin Natura. Dann schreitet er durch gewisse Stufen: die Sinne, die Temperamente, die Elemente, die Planeten, den Ozean, wo er an der Grenze des Menschlichen, an den Säulen des Herkules hinübergetreten ist in das außen sich Ausbreitende. Diese Säulen des Herkules spielen dann in der Symbolik eine große Rolle als Jakim und Boas-Säule, wobei nur zu bemerken ist, daß in den heutigen Geheimgesellschaften diese Säulen nicht mehr in der richtigen Weise aufgestellt werden können, auch nicht mehr aufgestellt werden sollen, weil sich diese richtige Aufstellung eben bei der wirklichen innerlich erlebten Initiation erst zeigt. Außerdem kann man sie im Raume nicht so aufstellen, wie sie sich in Wirklichkeit eben sich aufgestellt zeigen, wenn der Mensch seinen Leib verläßt. [1] (Siehe auch: Baum des Lebens).

Es ist nun wirklich so, daß wir uns bewegen durch das Gesamtleben, wie die Sonne sich bewegt durch die zwölf Sternbilder. Wir treten in unser Leben ein, indem unser Bewußtsein für die Sinne gewissermaßen aufgeht bei der einen Weltensäule und untergeht bei der anderen Weltensäule.

4. Siegelbild

An diesen Säulen gehen wir vorüber, wenn wir am Sternenhimmel gewissermaßen von der Nachtseite in die Tagseite hineingehen. Darauf suchten denn nun auch die okkulten oder symbolischen Gesellschaften immer hinzuweisen, indem sie die Säule der Geburt, die der Mensch passiert, wenn er eintritt in das Leben der Tagseite, Jakim nannten. Sie müssen diese Säule letzten Endes am Himmel suchen. Und dasjenige, was während des Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt Außenwelt ist, sind die Wahrnehmungen des über die ganze Welt verbreiteten Tastsinnes, wo wir nicht tasten, sondern getastet werden, wo wir fühlen, wie uns die geistigen Wesen überall berühren. Während des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt leben wir in der Bewegung darinnen, so daß wir diese Bewegung so fühlen, wie wenn hier in uns ein Blutkörperchen oder ein Muskel seine Eigenbewegung fühlen würde. Im Makrokosmos fühlen wir uns bewegend zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, das Gleichgewicht fühlen wir, und im Leben des Ganzen fühlen wir uns darinnen. Hier (im Mikrokosmos) ist unser Leben in unserer Haut abgeschlossen, dort aber fühlen wir uns im Gesamt-, im All-Leben drinnen und fühlen uns in jeder Lage uns selbst unser Gleichgewicht gebend. Hier gibt uns die Schwerkraft der Erde und unsere besondere Körperkonstitution das Gleichgewicht, und wir wissen eigentlich in der Regel nichts davon. Jederzeit fühlen wir das Gleichgewicht in dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das ist eine unmittelbare Empfindung, die andere Seite des Seelenlebens. Der Mensch tritt durch Jakim in das Erdenleben ein, versichernd durch Jakim: Dasjenige, was draußen im Makrokosmos ist, das lebt jetzt in dir, du bist jetzt ein Mikrokosmos, denn das heißt das Wort «Jakim»: In dir das über die Welt ausgegossene Göttliche. Boas, die andere Säule: der Eintritt durch den Tod in die geistige Welt. Dasjenige, was mit dem Worte Boas zusammengefaßt ist, bedeutet ungefähr: Das, was ich bisher in mir gesucht habe, die Stärke, die werde ich ausgegossen finden über die ganze Welt, in ihr werde ich leben.

Aber man kann solche Dinge nur verstehen, wenn man durch geistige Erkenntnis in sie eindringt. In den symbolischen Bruderschaften werden sie symbolisch angedeutet. Mehr werden sie angedeutet in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum aus dem Grunde, damit sie nicht der Menschheit ganz verloren gehen, damit später wiederum Menschen kommen können, die dasjenige, was dem Wort nach aufbewahrt ist, auch verstehen werden. Diese Säulen stellen das Leben einseitig dar, denn nur im Gleichgewichtszustand zwischen den beiden ist das Leben. Weder ist Jakim das Leben – denn es ist der Übergang von dem Geistigen zum Leibe –, noch ist Boas das Leben, denn es ist der Übergang vom Leibe zum Geist. Das Gleichgewicht ist dasjenige worauf es ankommt. Wir müssen, wenn wir unsere Zeit richtig verstehen, mitten durchgehen, uns weder die eine Säule, noch die andere Säule gewissermaßen zu der Grundkraft der Menschheit zurechtphantasieren, sondern mitten durchgehen. [2]

Zitate:

[1]  GA 187, Seite 126   (Ausgabe 1968, 196 Seiten)
[2]  GA 169, Seite 65f   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)

Quellen:

GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 187:  Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?. Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht (1918/1919)