Irrtum

Etwas ist doch nicht zu leugnen in bezug auf den Irrtum: er ist da, er ist vorhanden in der Welt, er ist real. Und vor allen Dingen: er kann sich ergeben in der menschlichen Natur und in ihr zum Sein gelangen. Wenn nun die äußere Welt sich in dem Gehirn einen Spiegelungsapparat geschaffen hat und sich spiegelt, und der Wahrheitsgehalt die Summe der Spiegelbilder ist, dann natürlich könnte noch immer in einem Menschen statt der Wahrheit der Irrtum dadurch auftreten, daß der Mensch sich etwa vergleichen ließe mit einem falschen Spiegel oder mit einem Spiegel der Karikaturen gibt von dem, was draußen ist. Also es ließe sich der Irrtum verhältnismäßig leicht dadurch erklären, daß man sagte, er ist dadurch möglich, daß unser Organ, das aus der äußeren Welt aufgebaut ist, falsch spiegelt. Man kann die Wahrheit als ein Spiegelbild erklären und kann auch den Irrtum als ein Spiegelbild erklären. Aber etwas kann man nicht: Die Korrektur, die Überführung des Irrtums in die Wahrheit kann man nicht als ein Spiegelbild erklären. Daß der Mensch nicht beim Irrtum zu bleiben nötig hat, sondern den Irrtum zu überwinden und in die Wahrheit überzuführen in der Lage ist, das ist das Maßgebende. Dadurch zeigt der Mensch, daß es in der Tatsache der Wahrheit eben wohl ein Spiegelbild der äußeren Wirklichkeit gibt; aber in der Umwandlung des Irrtums in die Wahrheit zeigt sich, daß der Irrtum als solcher nicht ein Spiegelbild der äußeren Wirklichkeit ist. Das heißt mit anderen Worten, daß der Irrtum, wenn er da ist, keine Existenzberechtigung in der Welt hat, die uns zunächst umgibt. Die Wahrheit hat ihre Existenzberechtigung in der Welt, die uns zunächst umgibt, und zur Annahme der Wahrheit brauchen wir nichts anzunehmen als die Existenz einer äußeren physischen Welt. Zur Annahme eines Irrtums genügt nichts, was sich spiegeln kann von der äußeren Welt, sondern da muß etwas da sein, was nicht zur äußeren Welt gehört, etwas, was keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der äußeren Welt hat. Wenn sich das Sinnliche als übersinnliches Bild in der Wahrheit spiegelt, dann muß sich, wenn sich das Sinnliche als Irrtum spiegelt, ein anderer Grund als der, welcher im Sinnlichen selber liegt, für den Irrtum ergeben. Der Irrtum kann nur urständen in einer übersinnlichen Welt, kann nur aus einer übersinnlichen Welt kommen. Das ist zunächst ein Schluß. Nun wollen wir einmal sehen, was die übersinnliche Forschung zu sagen hat – nicht um etwas zu beweisen, sondern um uns die Sache zu beleuchten – zu dieser eigentümlichen Stellung des Irrtums in der äußeren Welt. Nehmen wir also an, wir denken willkürlich einen Irrtum. Das ist ja vielleicht, wie es zunächst scheint, keine sehr begehrenswerte Tat, aber in einem höheren Sinne kann es eine sehr nützliche Tat sein. Nämlich, wer das wirklich ausführt, einen Irrtum willkürlich zu denken, der wird, wenn er mit der nötigen Energie, mit der nötigen Sorgfalt und mit öfterer Wiederholung dabei ist, merken, daß dieser Irrtum schon etwas recht Reales in seiner Seele ist.

Durch den Irrtum, den wir willkürlich denken und bei dem wir uns klar darüber sind, daß er ein Irrtum ist, beweisen wir nichts, klären uns über nichts auf. Aber er wirkt in uns. Ja es ist diese Wirkung eine recht bedeutsame aus dem Grunde, weil wir durch gar keinen Ausblick auf eine Wahrheit gestört werden, wenn wir wissen, wir denken einen Irrtum. Da sind wir so recht bei uns selber, wenn wir willkürlich einen Irrtum denken. Und man braucht diesen Prozeß nur lange genug fortzusetzten, dann wird man sehen, daß man gerade dadurch zu einem Aufrufen von in der Seele verborgenen Kräften kommt, von Kräften, die vorher nicht da waren. Das fortwährende Sich-Hingeben an die äußere Wahrheit führt nicht sehr weit in bezug auf das, was jetzt gemeint ist, aber das willkürliche Kraftenlassen des Irrtums in sich selber kann allerdings zur Hervorbringung gewisser verborgener Seelenkräfte führen. [1]

Die Vorstellung des Rosenkreuzes (beispielsweise) ist, wenn man es einseitig vom Standpunkte der äußeren Wirklichkeit aus nimmt, eine irrtümliche Vorstellung, ein Irrtum. Es wachsen auf einem schwarzen, toten Holzstamm keine roten Rosen. Aber es ist eine symbolische Vorstellung, eine sinnbildliche Vorstellung. Wir geben uns, wenn wir über das Rosenkreuz meditieren, einer Vorstellung hin, die für die äußere materielle Wahrheit ein Irrtum ist, also die Bedingung erfüllt, daß wir willkürlich einen Irrtum in unsere Seele aufnehmen. Der Mensch kann kennenlernen eine übersinnliche Welt, denn er lernt erkennen den Irrtum. Er braucht also nicht auf künstliche Art hinaufzugehen in die übersinnliche Welt, denn sie ragt herein in den Menschen, indem sie ihn in den Irrtum schickt. Und der wirkt. Aber es ist keine gute Welt, die der Mensch da kennenlernt. Der Mensch lernt die übersinnliche Welt zuerst in Form von luziferischen Kräften kennen. Wenn der Mensch bei dem Eindringen in die übersinnliche Welt durch den willkürlich in sein Denken aufgenommenen Irrtum nicht die nötige moralische Seelenverfassung hat, so verfällt er dem Luzifer. [2]

Das Dasein der Wahrheit beweist nichts für die übersinnliche Welt, so daß von vornherein der Beweis aus der Wahrheit für die übersinnliche Welt nichts taugt. Wir kommen erst zurecht dann, wenn wir bei der Entstehung des übersinnlichen Menschen zunächst dem luziferischen Prinzip den Zutritt gestatten, also sozusagen das luziferische Prinzip beteiligt sein lassen, insofern wir vom Menschen, wie er da ist in der physischen Welt, hinaufblicken zur übersinnlichen Welt. So kann also nicht der Mensch von einem Gotte bloß herstammen. Er muß herstammen von einem Gotte in Verbindung mit dem luziferischen Prinzip. [3] (Siehe dazu: Kain).

Zitate:

[1]  GA 115, Seite 245ff   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[2]  GA 115, Seite 248ff   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[3]  GA 115, Seite 251f   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)

Quellen:

GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)