Idealismus philosophischer

Weltanschauung ohne Wissenschaft. Das war im Grunde das charakteristische Wesen des uralten Orients in seiner Weisheit. Diese Weltanschauung, sie hat das Bedeutsame, daß sie sich über den ganzen Menschen erstreckt; sie hat das Bedeutsame, daß der Mensch sich erfaßt durch diese Weltanschauung als Geist Seele und Leib. Allerdings trat diese Weltanschauung im alten Orient so auf, daß dem Leibe und demjenigen, was der äußeren, physischen Welt zugehörte, wenig Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Dieses Leben war mehr eine Verständigung zwischen Seele und Geist, in dem der Mensch sich wurzelnd wußte, aber es war Welt-Anschauung. Das heißt, durch das, was der Mensch dachte und empfand, stellte er für sich fest seine Lage, sein Verhältnis zur Welt der Sinne und zur Welt des Geistes. Das tat er nicht auf wissenschaftliche Weise, sondern durch seelische Anschauung. Dasjenige, was da durch seelische Anschauung gewonnen worden ist, es lebte in seiner Urgestalt allerdings in alten Zeiten des Orients. Aber die Erbschaft davon lebte weiter, und im Grunde genommen verspürt man bis in die neueste Zeit hinein die Erbschaft dieses orientalischen Weltanschauungslebens. Dieses Weltanschauungsleben, es hat dasjenige abgegeben, wodurch zum Beispiel das erste Christentum – in dem noch lebendig war diese altorientalische Weisheit und Weltanschauung – begriffen hat das der Erde den Sinn gebende Mysterium von Golgatha. Aber an der Stelle des Anschauens, das der alte Orient hatte, setzte sich immer mehr und mehr, indem diese Anschauung Erbschaft blieb, das intellektualistische Element fest. Bevor heraufkam in der neueren Zeit die weltanschauungslose Wissenschaft des Westens, die auch der Seelenlehre und der Nationalökonomie die Gestalt gegeben hat, die ich erwähnt habe, bildete sich in der Mitte, schon beginnend mit dem alten Griechenland, klar sich ausprägend dasjenige heraus, was den Menschen, ich möchte sagen in einen innerlichen Kampf versetzte. Er begriff ein Ereignis, das nur mit dem Geiste zu erfassen ist das Christus-Ereignis, noch durch die ererbten Anklänge alter, orientalischer Weisheit. Daneben schimmerte immer mehr und mehr, durch die besonderen Anlagen der westlichen Menschheit, auch in dieses Mitteleuropa hinein dasjenige, was vor allen Dingen unsere irdische Umgebung und den Menschen selbst, im Grunde genommen nur durch Mathematik und durch die Beobachtung der Außenwelt begreifen will.

Und so lebte in Mitteleuropa auf der einen Seite gerade dasjenige, was man nennen könnte ein Hinneigen zum alten orientalischen Erbgut. Alles, was durch das Mittelalter und die neuere Zeit hinauf an Inhalt der christlichen Lehre lebte und bis heute noch lebt, alles dasjenige, was darin an Weltanschauung lebt – wenn es auch fast schon verglommen ist, wenn auch der reine Rationalismus die moderne Theologie ergriffen hat –, es ist zum größten Teil altes orientalisches Erbgut, denn nur erst wenige Ansätze zu einer Neuschöpfung sind vorhanden. Und verbunden damit ist dasjenige, was nun der Mensch zunächst durch Mathematik und Naturbeobachtung aus sich selber heraus findet an Wissenschaftlichkeit, die es aber nicht zur Weltanschauung bringt.

Und so sehen wir im Mittelalter, in der Zeit, als Albertus Magnus und Thomas von Aquin gewirkt haben, in bewußter Weise auftreten diesen Zwiespalt zwischen dem, was menschliche Vernunft durch Beobachtung und durch Mathematik erreichen kann, was sich beschränken soll auf die äußere sinnliche Welt, und demjenigen, was Offenbarung, Weltanschauungsoffenbarung sein soll – das Mysterium von Golgatha, was man damals nicht so benannte, was aber seinem Inhalte nach, nicht der Tatsache nach, altorientalisches Erbgut war. Und im Grunde genommen lebt dieser Zwiespalt durchaus bis heute in allem öffentlichen Leben in Mitteleuropa, auch im Staats- und Wirtschaftsleben, aus dem Mittelalter heraufkommend – dieser Zwiespalt zwischen weltanschauungslosem, wissen-schaftlichem Denken und alter, ererbter wissenschaftsloser Weltanschauung. [1]

Der Mensch der europäischen Mitte ist seit der Zeit des Griechentums zu diesem inneren Kampfe aufgerufen. Und gerade dieser innere Kampf hat ja in der Zeit der deutschen Kultur um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts die höchsten Geistesblüten hervorgebracht. Denn das, was in Herder, Schiller, Goethe, was in den Philosophen des deutschen Idealismus, in Fichte, Schelling, Hegel lebte, das lebte nur dadurch in all diesen Geistern, daß diese Geister tief innerlich in sich verdichteten den Kampf, der besteht zwischen weltanschauungsloser Wissenschaft und altererbter wissenschaftsloser Weltanschauung. Man kann es bei Goethe bis in seine einzelnen Aussprüche hinein verfolgen, wie er zusammenzubringen versuchte dasjenige, was die Wissenschaft auf der einen Seite gibt, und dasjenige, was in ihm lebte empfindungsgemäß, phantasiegemäß als altes Erbgut des Orients. Ja, bei Goethe geht es sogar weiter; er erlebte diesen Zwiespalt in seinem Innern bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts hinein. Da treibt es ihn nach dem Süden, damit er im Süden wenigstens die Nachklänge, die im Süden Europas geblieben sind, noch empfinden kann von dem, was altorientalische wissenschaftslose Weltanschauung war, die allerdings sehr, sehr im Abglimmen in Griechenland begriffen gewesen ist. Von dieser wissenschaftslosen Weltanschauung ist durch die Araber herübergekommen durch den europäischen Süden bis in den Westen hinein nichts anderes als die Mathematik, die trockene Mathematik. Sie ist im Grunde genommen Europas letzter Rest, allerdings bleibender Rest desjenigen, was als umfassend Universelles aus der wissenschaftslosen Weltanschauung des Orients entsprungen ist. Denn dort war alles, was an Weisheit vorhanden war, so aus dem Inneren des Menschen herausquellend wie bei uns, in unserer Zivilisation, nur mehr die Mathematik ist. Das hat insbesondere Novalis empfunden gegenüber der Mathematik und stammelnd ausgesprochen.

Und neu bekommen hat die Zivilisation des Westens dasjenige, was ich das Beobachtungs- und Experimentalsystem nennen möchte, aus dem die eigentliche Wissenschaft des Westens hervorgequollen ist, aus dem alles das herausquillt, was der Mensch zunächst nicht aus seinem Inneren gewinnt, sondern was er gewinnt dadurch, daß er die Welt der Sinne eben auf die Sinne wirken läßt. Und was da zunächst an wissenschaftlichem Geiste geworden ist, was an wissenschaftlichem Geiste nun übergegangen ist in alles dasjenige, wodurch unsere führenden Menschen ihre Bildung, ihre Wissenschaftlichkeit gewinnen, das hat seine Ohnmacht geoffenbart gegenüber dem wirtschaftlichen, gegenüber dem staatlichen Leben. Und so sehen wir heraufziehen unser modernes Leben. [2]

Eine Weltanschauung, die nicht wissenschaftlich ist, können wir nicht mehr erstreben. Über die Zeiten, in denen wissenschaftslose Weltanschauung der Menschheit genügen konnte, sind wir hinaus. Wir stehen heute vor der großen Aufgabe, aus der Wissenschaft durch innere Entwicklung des Menschen Weltanschauung zu entwickeln. Das werden wir können, wenn wir den Wirklichkeitscharakter der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft wirklich durchschauen. [3]

Zitate:

[1]  GA 335, Seite 289f   (Ausgabe 2005, 498 Seiten)
[2]  GA 335, Seite 291f   (Ausgabe 2005, 498 Seiten)
[3]  GA 335, Seite 296   (Ausgabe 2005, 498 Seiten)

Quellen:

GA 335:  Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken (1920)