Ich
► Allgemeines

Der Mensch gliedert sich im wesentlichen in drei Teile: Indem wir die drei unteren Glieder und die drei oberen verbinden, haben wir in der Mitte das Ich. Das Ich ist das, was an beiden, dem Irdischen und dem Göttlichen, Anteil hat. Das durchdringt den Ätherleib und den Astralleib. Dieses Ich bezeichnen wir als Seele. Das eigentliche unsterbliche Innere des Menschen, Atma, Buddhi, Manas, bezeichnen wir als Geist. Durch diese drei Glieder seiner Natur ist der Mensch ein Bürger von drei Welten zugleich. [1]

Das Wort Ich nimmt ja unter allen Worten der menschlichen Sprache eine besondere Stellung ein. Ungefähr im dritten Lebensjahr lernt der Mensch dieses Wort gebrauchen. Das ist aber ein Alter, in welchem noch kein eigentliches Ich-Bewußtsein vorhanden ist. Daher lernt man dieses Wort zunächst nur automatisch sprechen. Erst im 21. Lebensjahr findet die Geburt des Ich statt. Was da zum Vorschein kommt, ist dann aber immer noch das ganze Leben hindurch nicht das wahre Ich. Ihm begegnet man als gewöhnlicher Mensch erst wieder nach dem Tode. So gebraucht jeder Mensch bis zu seinem Tode das Wort «Ich» doch immer nur provisorisch. Dieses provisorischen Gebrauches des Wortes «Ich» muß sich der Meditant ganz besonders bewußt werden. Er muß lernen, daß er erst allmählich den Weg zu dem wahren Ich finden muß, indem er zunächst lernt, es durch alle seine drei Hüllen hindurch zu erleben. [2]

Das Ich ist gewissermaßen eine Art Punkt, der die Seelenerlebnisse zusammenfaßt. [3] Das geistige Zentrum des Menschen (ist) das Ich –, wenn wir gelernt haben, uns zur Ich-Vorstellung aufzuschwingen –, das alle unsere Vorstellungen begleitet, das geheimnisvolle Zentrum alles Erlebens. [4] Im Laufe der Kindheitsentwickelung tritt im Leben des Menschen der Augenblick ein, in dem er sich zum ersten Mal als ein selbständiges Wesen gegenüber der ganzen übrigen Welt empfindet. Durch das Selbstbewußtsein bezeichnet sich der Mensch als ein selbständiges, von allem übrigen abgeschlossenes Wesen, als «Ich». Im «Ich» faßt der Mensch alles zusammen, was er als leibliche und seelische Wesenheit erlebt. Leib und Seele sind die Träger des Ich; in ihnen wirkt es. Wie der physische Körper im Gehirn, so hat die Seele im Ich ihren Mittelpunkt. [5] Die Ich-Organisation, das eigentliche Ich im Menschen, wie er heute ist, der Empfänger der Sinneseindrücke ist. Die Sinneseindrücke ersterben wiederum, wenn die Ich-Organisation herausschlüpft aus dem physischen und dem Ätherleib. [6] Die Sinneserscheinungen offenbaren sich dem Ich von der einen, der Geist von der anderen Seite. Leib und Seele geben sich dem Ich hin, um ihm zu dienen; das Ich aber gibt sich dem Geiste hin, daß er es erfülle. Das Ich lebt in Leib und Seele; der Geist aber lebt im Ich. Und was vom Geiste im Ich ist, das ist ewig. [7] Das Ich ist die Grenze zwischen dem Geist von außen und dem Geist, der im Menschen lebt. [8]

Man kann die Verstandesseele, weil sie an der Ich-Natur Teil hat, weil sie in einer gewissen Beziehung schon das «Ich» ist, das sich seiner Geistwesenheit nur noch nicht bewußt ist, als «Ich» schlechtweg bezeichnen. [9]

Dieser geistig-seelische Wesenskern, den wir zusammenfassen in seinem Mittelpunkt, wenn wir «Ich» oder «Ich bin» sagen, ist eingebettet in den Astral-, Äther- und physischen Leib. So wie der Mensch jetzt in der Welt lebt, leben wir eigentlich, wenn wir innerlich leben, in unserem Ich; denn alle Seelentätigkeiten sind bei dem wachen Menschen mit dem Ich in irgendeiner Weise verknüpft, erscheinen gleichsam alle auf dem Hintergrunde des Ich. [10]

Das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist. Insofern es im physischen Körper lebt, ist es den mineralischen Gesetzen, durch den Ätherleib ist es den Gesetzen der Fortpflanzung und des Wachstums, vermöge der Empfindungs- und Verstandesseele den Gesetzen der seelischen Welt unterworfen; insofern es das Geistige in sich aufnimmt, ist es den Gesetzen des Geistes unterworfen. Das Ich lebt in der Seele. Wenn auch die höchste Äußerung des Ich der Bewußtseinsseele angehört, so muß man doch sagen, daß dieses Ich von da ausstrahlend die ganze Seele erfüllt und durch die Seele seine Wirkung auf den Leib äußert. Es strahlt der Geist in das Ich und lebt in ihm als in seiner Hülle, wie das Ich in Leib und Seele als seinen Hüllen lebt [11] Das Ich erwacht in der Bewußtseinsseele. Die Bewußtseinsseele und das Geistselbst, Manas verschmelzen durch die selbsteigene Tätigkeit des «Ich» zu einem Ganzen. [12]

Das eigentliche Wesen des Ich ist von allem Äußeren unabhängig; deshalb kann ihm sein Name auch von keinem Äußeren zugerufen werden. Jene religiösen Bekenntnisse, welche mit Bewußtsein ihren Zusammenhang mit der übersinnlichen Anschauung aufrechterhalten haben, nennen daher die Bezeichnung «Ich» den «unaussprechlichen Namen Gottes». Denn gerade auf das Angedeutete wird gewiesen, wenn dieser Ausdruck gebraucht wird. Kein Äußeres hat Zugang zu jenem Teil der menschlichen Seele, der hiermit ins Auge gefaßt ist. Hier ist das verborgene Heiligtum der Seele. Nur ein Wesen kann da Einlaß gewinnen, mit dem die Seele gleicher Art ist. «Der Gott, der im Menschen wohnt, spricht, wenn die Seele sich als Ich erkennt.» Diese Anschauung sagt durchaus nicht, daß das Ich Gott sei, sondern nur, daß es mit dem Göttlichen von einerlei Art und Wesenheit ist. Wie der Tropfen sich zum Meer verhält, so verhält sich das Ich zum Göttlichen. [13] .

Es ist die unzerstörbare menschliche Individualität, die das Wissen vom Aufbau der anderen Wesensglieder in sich birgt. Es ist das unaussprechbare gleicherweise menschliche und göttliche Ich. Es ist die Einheit der vier Elemente, die Pythagoras unter dem Zeichen des Tetragramms verehrt hat. [14] Wenn wir das Wörtchen Ich aussprechen, so meinen wir doch dasjenige in unserer Wesenheit, das weder von unserem physischen Leibe, noch von unserem ätherischen Körper, noch von unserem astralischen Körper, insofern wir durch diese ein Glied des Kosmos sind, umfaßt wird, sondern was eine innerliche, auf sich selbst gestellte Wesenheit ist. Diese Wesenheit fühlen wir als eine besondere Welt, als der göttlichen Welt angehörig, von welcher der Kosmos nur der äußere Abglanz, das äußere Abbild ist. Wir fühlen als Menschen, indem wir uns als Ich ansprechen, daß diese Wesenheit mit all dem, was im Kosmos enthalten ist, eigentlich nur umkleidet ist, und daß auch diese physisch-sinnliche Körperlichkeit eine Umkleidung des eigentlichen Wesens ist. [15]

Nirgends außer in Mitteleuropa wird «Ich» gesagt, wenn man seine eigene Wesenheit meint. Es ist durch den Volksgeist, der sich als Sprachgeist manifestiert, die ganze Evolution so gelenkt worden, daß es allmählich dazugekommen ist, die eigene Wesenheit auszudrücken mit dem Wort Ich. Aber Ich, I-Ch, ist Jesus Christus. Dadurch, daß in dem «Ich» JesusChristus in seinen Anfangsbuchstaben ausgesprochen wird, ist das sinnbildlich ausgedrückt, was im mitteleuropäischen Geisteswesen liegt, wie es intim verbunden ist mit dem innerlichsten Erleben. [16] So wirkt der Volksgeist, inspirierend das Volk, um in charakteristischen Worten auszudrücken, was die zugrunde liegenden Tatsachen sind. [17] Der erste christliche Eingeweihte Europas, Ulfilas (des 4. Jahrhunderts), hat es in die deutsche (damals gotische) Sprache selbst hineingelegt, daß der Mensch in der Sprache das Ich fand. Es sind die Eingeweihten, welche die Sprache geschaffen haben. So wie man im Sanskrit das AUM für die Trinität hat, haben wir für das Innere des Menschen das Zeichen ICH. Dadurch war ein Mittelpunkt geschaffen worden, durch den die Leidenschaften der Welt sich in Rhythmus verwandeln können. Sie müssen sich durch das Ich rhythmisieren. Dieser Mittelpunkt ist wörtlich der Christus. [18]

Das Ich ist es auch, welches Karma erleidet und Karma bildet. [19] Für das Ich bedeuten Erinnerung und Vergessen etwas durchaus Ähnliches wie für den Astralleib Wachen und Schlaf. [20] Das Ich muß gerade, damit es sich in seiner Vereinzelung voll erfassen kann, sich abschließen von allem, was an spirituellen Impulsen unmittelbar zur Seele dringt. [21] Daß wir unser Ich empfinden, fühlen, das rührt davon her, daß dieser Lebenslauf stückweise immer unterbrochen ist. Das Ich ist entleert worden für den Menschen der Gegenwart seines hellseherisch-atavistischen Inhaltes, der die Menschen abgelaufener Epochen getragen hat, der sie durchdrungen hat mit der Überzeugung, daß sie ein Gemeinsames haben mit einem Göttlichen, daß sie zusammenhängen mit einem Göttlichen. Heute ist das Ich entleert von diesen atavistisch-hellseherischen Schauungen, und wenn wir zurückblicken auf das Ich, ist es gewissermaßen mehr oder weniger nur ein Punkt in unserem Seelenleben. Es ist für jeden der Inhalt dieses Ich ein fester Stützpunkt, aber eben nur ein Punkt.

Damit das Ich wiederum Inhalt bekomme, ragt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Geistwelt so mächtig in unsere sinnliche Welt herein; deshalb ist es, daß die geistige Welt in ihren Offenbarungen in einer neuen Art wiederum herein will in unser physisches Dasein. Und was wir auf dem Boden der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft wollen, das ist: alles das willig aufzunehmen und in Formen zu kleiden, die es menschlich mitteilbar machen, was hereinwill durch spirituelle Offenbarungen aus einer anderen, aber doch diese (unsere normale) Welt tragenden Welt. [22]

In unserer Zeit soll sich unser Ich mit einem neuen, vollbewußt aufgenommenen geistigen Inhalt erfüllen, der uns wiederum das Band abgibt, das unsere Seele mit der göttlichen Seelenwesenheit verbindet. Die Menschen der Vorzeit haben das atavistische Hellsehen gehabt, und was als letzte Erbschaft des atavistischen Hellsehens geblieben ist, das ist das abstrakte Nachdenken, das abstrakte Wissen der Menschen der Gegenwart. Verdünnt aus dem früheren atavistischen Hellsehen ist dies geblieben. Der Mensch der Gegenwart kann das Gefühl haben, daß diese logisch-dialektische Verdünnung des alten atavistischen (Wissens), sein Seelenhaftes nicht mehr zu tragen vermag. Dann wird er die Sehnsucht empfangen, etwas Neues in das Ich hereinzubekommen. In alten Zeiten haben die Menschen die hellseherischen Offenbarungen gehabt und sie haben sie nicht verstanden; sie haben sie erst später verstehen gelernt. Heute muß der Mensch zuerst verstehen, muß anstrengen seine Intellektualität, muß anstrengen seinen Verstand, und wenn er ihn anstrengt durch das, was in der Geisteswissenschaft vorliegt, dann wird die Menschheit sich hinentwickeln wiederum zum hellseherischen Aufnehmen des Geistigen. [23]

Das Ich hat, insofern es als bewußtes Ich auftritt, zum Werkzeug das Blutsystem; insofern es vorgebildet ist als Form, als Gestalt, liegt ihm zugrunde ein kosmisches Kraftsystem, das hindrängt zur Ich-Organisation, zur festen Ich-Gestaltung, und das sich am tiefsten zum Ausdruck bringt in unserem Knochensystem. [24]

Zitate:

[1]  GA 54, Seite 364   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[2]  GA 266/3, Seite 471f   (Ausgabe 1998, 545 Seiten)
[3]  GA 276, Seite 11   (Ausgabe 1961, 160 Seiten)
[4]  GA 60, Seite 209   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[5]  GA 9, Seite 47f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[6]  GA 346, Seite 43   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[7]  GA 9, Seite 50   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[8]  GA 291a, Seite 186   (Ausgabe 1990, 521 Seiten)
[9]  GA 13, Seite 77   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[10]  GA 143, Seite 49f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[11]  GA 9, Seite 50f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[12]  GA 34, Seite 135   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[13]  GA 13, Seite 66f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[14]  GA 94, Seite 38f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[15]  GA 215, Seite 23   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[16]  GA 159, Seite 217   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[17]  GA 159, Seite 193   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[18]  GA 93a, Seite 29f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[19]  GA 236, Seite 237   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)
[20]  GA 13, Seite 64   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[21]  GA 148, Seite 112   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[22]  GA 195, Seite 61f   (Ausgabe 1962, 91 Seiten)
[23]  GA 195, Seite 62f   (Ausgabe 1962, 91 Seiten)
[24]  GA 128, Seite 140   (Ausgabe 1978, 186 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 128:  Eine okkulte Physiologie (1911)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 195:  Weltsilvester und Neujahrsgedanken (1919/1920)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 236:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Zweiter Band (1924)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913-1923)
GA 276:  Das Künstlerische in seiner Weltmission. Der Genius der Sprache. Die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheins – Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung (1923)
GA 291a:  Farbenerkenntnis (1889-1925)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)