Hüter der Schwelle kleiner

Nicht alles Physische am Menschen ist bestimmt, erlöst zu werden. Es bleibt vom Menschen eine Schlacke zurück. Diese Schlacke, die da zurückbleibt, ist im Menschen fortwährend vorhanden, daher steht er unter dem Einfluß der astralischen Elementarwesen; das dazugehörige Elementarwesen hängt ihm an. Der Mensch ist daher in fortwährender Verbindung mit dem, was ein hemmender Feind, ein Störenfried seiner Entwicklung ist. Die Wesenheiten, die sich dem Menschen anhängen, nannte man in der deutschen Mythologie die Alben. Sie treten in einer unbestimmten Gestalt auf im sogenannten Alptraum. Diese Träume äußern sich etwa so, daß man glaubt, ein Wesen setzt sich einem auf die Brust. Wenn man astral sehend wird, sieht man zuerst diese Wesen (The Dweller on the Threshold in Bulwers «Zanoni»). Es ist die Widerspiegelung der astralen Bekanntschaft des Menschen mit seinem Alb, ein Sich-Wehren des Menschen gegen seinen Feind. Das Wesen ist die Projektion eines astralen Wesens in uns selbst. Es ist der (kleine) Hüter der Schwelle. Der Mensch, der die Furcht vor dem inneren Feinde nicht überwinden kann, der kehrt gewöhnlich um beim Tor der Initiation. Auf dem höheren Gebiet des astralen Planes ist es (das Bild) der Sphinx die in den Abgrund gestürzt werden muß, ehe man weiterschreiten kann. Der Mensch, der sich entwickeln muß, geht diesem Augenblick entgegen. Wenn man die moralische Natur vorher höherbringen kann, ehe man in der Astralwelt sehend wird, wird die Erscheinung des Hüters der Schwelle weniger furchtbar. [1]

Wenn wir von dem physischen Menschen sprechen, von allem, was der Mensch als Physisches um sich herum hat, so ist es das Ich, das mit Hilfe der Sinne und des Verstandes, der an das Gehirn gebunden ist, die Welt anschaut. Daher kennt der Mensch nur das, worüber sein Ich ausgebreitet ist, was seinem Ich angehört. Sobald irgendwie das Ich nicht dabei sein kann bei etwas, was von dem Weltbilde gegeben ist, dann hört überhaupt das Weltbild auf, eine Wahrnehmung zu sein, das heißt, der Mensch schläft dann ein. Dann ist aber kein Weltbild um ihn herum; er wird dann bewußtlos. Wo Sie hinschauen, an jedem Punkt ist mit dem, was Sie wahrnehmen, Ihr Ich verbunden, das heißt, es ist über Ihre Wahrnehmung ausgegossen, so daß Sie eigentlich nur den Inhalt Ihres Ich kennen. Der Mensch kennt als normaler Mensch den Inhalt seines Ich, und was seine eigene Natur und Wesenheit ist, wo hinein er an jedem Morgen beim Aufwachen steigt, Astralleib, Ätherleib, physischer Leib, das kennt er als heutiger Mensch nicht, denn in dem Augenblicke, wo er als heutiger Mensch aufwacht, sieht er nicht seinen Astralleib. Der heutige Mensch würde sogar entsetzt sein, wenn er seinen Astralleib wahrnehmen würde, das heißt die Summe aller Triebe, Begierden und Leidenschaften, die sich durch die wiederholten Erdenleben angehäuft haben. Der Mensch sieht auch nicht seinen Ätherleib. Das könnte er gar nicht ertragen. Wenn er eintaucht in seine eigene Natur, in physischen Leib, Ätherleib und Astralleib, ist er sogleich in bezug auf seine Wahrnehmung abgelenkt auf die Außenwelt. Da sieht er das, was ihm gute Götter ausbreiten über die Fläche seines Schauens, damit er gar nicht in die Lage kommt, weil er es nicht ertragen könnte, in sein eigenes Inneres hinunterzusteigen. Wir sagen daher mit Recht, wenn wir in der Geisteswissenschaft von diesem Vorgange sprechen: In dem Augenblick, wo der Mensch des Morgens aufwacht, tritt er eigentlich ein in das Tor der eigenen Wesenheit. Aber an diesem Tore steht ein Wächter; dieser Wächter ist der kleine Hüter der Schwelle. Er läßt den Menschen nicht eintreten in die eigene Wesenheit, sondern lenkt ihn sogleich auf die äußere Welt ab. Jeden Morgen trifft der Mensch diesen kleinen Hüter der Schwelle. Wer bewußt beim Aufwachen eintritt in seine Hüllennatur, lernt diesen kleinen Hüter der Schwelle kennen. [2]

Dem kleinen Hüter der Schwelle begegnet der Mensch dann, wenn sich die Verbindungsfäden zwischen Willen, Denken und Fühlen innerhalb der feineren Leiber – des Astral- und Ätherleibes zu lösen beginnen. Dem größeren Hüter der Schwelle tritt der Mensch gegenüber, wenn sich die Auflösung der Verbindungen auch auf die physischen Teile des Leibes – namentlich zunächst das Gehirn – erstreckt. [3]

Es gibt im Menschen dasjenige, was man Schamgefühl nennt. Dieses besteht ja darin, daß der Mensch, wenn er sich in seiner Seele schämt irgendeiner Sache, die Aufmerksamkeit der anderen ablenken will von dem betreffenden Dinge oder der betreffenden Eigenschaft, der gegenüber er sich schämt. Dieses Schamgefühl ist eine schwache Andeutung von jenem Gefühl, das zu ungeheurer Stärke wachsen würde, wenn der Mensch beim Aufwachen bewußt in sein eigenes Innere hineinsteigen würde. Es würde dieses Gefühl sich mit einer solchen Gewalt der menschlichen Seele bemächtigen müssen, daß der Mensch es über alles, was da ihm entgegentreten könnte, ausgegossen empfinden würde. Wie eine Art Verbrennen würde dieses Schamgefühl auf ihn wirken. Dasjenige, was man im trivialen Leben beobachten kann, wenn der Mensch dadurch, daß er sich dem Genusse dieser oder jener Genußmittel hingibt, sein Herz und sein Gehirn zugrunde richtet, das sind sozusagen nur die trivialen Anfänge; wenn man ins feinere hineinsehen würde, so würde man das ganze Leben der Seele beobachten müssen als eine Zerstörungstätigkeit für den Wunderbau des menschlichen Ätherleibes und des physischen Leibes. Das alles aber würde vor der menschlichen Seele lebendig stehen, wenn sie bewußt hinabsteigen würde in ihren Äther- und in ihren physischen Leib. Und es würde etwas ungeheuer Niederschmetterndes, etwas Auflösendes für den Menschen haben, wenn er nun bewußt vergleichen könnte, was er in seiner Seele ist und was die weise Weltenführung aus demjenigen gemacht hat in das er jeden Morgen bei dem Aufwachen hinuntertaucht. Dem (Ertragen) dieses Vergleiches wird vorgearbeitet durch alle jene Seelenerlebnisse, die der Mystiker durchmacht, bevor er fähig wird, hinunterzusteigen in sein Inneres. [4] Wenn das so recht in der Seele sich verbreitet, was man die Erziehung zur Demut nennen kann, dann wird die Seele durchflossen und durchdrungen von diesem Demutsgefühl, das zuletzt wirklich empfindungsgemäß dazu führt, sich so zu denken, daß man einen unendlichen Weg vor sich hat, um vollkommener zu werden. Dann muß der Mensch jenes Gefühl entwickeln, welches ihn befähigt, dasjenige, was sich ihm in den Weg stellen kann, wenn er vollkommener und immer vollkommener werden will, zu ertragen. Ergebenheitsgefühl muß er entwickeln. [5]

Die Macht, welche da den Menschen jeden Morgen beim Aufwachen behütet, hineinzusteigen in das eigentliche Innere kann der Mensch nicht sehen. Es ist die erste geistige Wesenheit, welcher begegnet der echte, wirkliche Geistesforscher. An diesem kleinen Hüter der Schwelle vorbei führt der Weg in die geistige Welt hinein. [6]

Da stehen wir denn vor der rechten Selbsterkenntnis, und wie vor einem leuchtenden Bild erscheint als Finsternis, wie eine finstere Silhouette, dasjenige, was wir geworden sind durch unsere Unterlassungssünden, durch das, was wir auszubessern haben an uns, damit wir unsere Seelenkräfte in der richtigen Weise entwickeln. Dasjenige, was wir nicht geworden sind, das stellt sich uns vor die Seele. Was an Unterlassungssünden an unserem Willen haftet, sagt uns: Mit alledem, was du da unterlassen hast, wirst du gefesselt sein an die untergehenden Kräfte der Erde; das wird dich fesseln wie mit ehernen Banden an alles das, was die Erde in ihre Zerstörung hineintreibt. – Dasjenige, was wir an Unterlassungssünden haben in bezug auf unser Denken, das sagt uns: Weil du diese Unterlassungssünden hast in bezug auf dein Denken, wirst du nicht die Möglichkeit finden, eine Harmonie herzustellen zwischen deinem Willen und deinem Fühlen. – Und dasjenige, was wir an Unterlassungssünden in bezug auf unser Fühlen haben, das stellt sich so hinein in unser ganzes innere Leben, daß es uns sagt: Es wird das Weltenwerden über dich hinwegschreiten; du hast nichts getan, um von dir selber aus dem Weltenwerden etwas hineinzufügen. Daher wird dasjenige, was dir das Weltenwerden gegeben hat, von diesem Weltenwerden genommen, weil du nichts dazu getan hast, und dieses Weltenwerden wird so über dich hinwegschreiten, wie wenn du überhaupt nicht da gewesen wärest. [7] Wir fühlen damit alles, was wir selber in unsere Seele gelegt haben an diesen seelenzerstörenden Kräften, unsere Unterlassungssünden, in diesem mystischen Momente des Vorbeischreitens an dem kleinen Hüter der Schwelle. Wenn man das alles fühlt, dann hat man es im astralischen Leib erlebt. Aber wenn man es immer wieder und wiederum fühlt, dann verwandelt es sich endlich in eine ganz bestimmte Anschauung, die jetzt eine innere Anschauung, ein inneres Erlebnis ist, das dadurch entsteht, daß wir so viel Kraft gesammelt haben durch unser mystisches Denken, Fühlen und Wollen, daß unser astralisches Erleben sich spiegelt an unserem Ätherleib und uns zurückgeworfen wird. Da haben wir jetzt wie eine äußere Wirklichkeit unser eigenes Gegenbild vor uns. Ganz ähnlich wie wir sonst die Außenwelt sehen, sehen wir jetzt unser eigenes Innere. Vorher ist unser Blick im normalen Bewußtsein, als wir (beim Aufwachen) untertauchten in die äußeren Hüllen, abgelenkt worden auf die Außenwelt. Die äußeren Eindrücke der Sinnenwelt floßen auf uns ein, damit wir nicht sehen konnten, was wir aber jetzt sehen sollen und müssen, wenn wir uns entschließen wollen, an der Entwickelung der Menschheit teilzunehmen.

Alles dasjenige, was uns an die Erde fesselt, was uns mit dem Vergänglichen verbindet, so daß wir es selber als Vergängliches zurücklassen müssen, das zeigt sich uns da in dem Bilde eines verzerrten Stieres. Alles dasjenige, was sonst Einklang schafft zwischen unserem Willen und unserem Fühlen in unserer Seele, zeigt sich uns in bezug auf seine Unterlassungssünden in dem Bilde eines verzerrten Löwen. Und alles dasjenige, was über uns hinwegschreitet, wenn wir Unterlassungssünden in unserem Denken haben, alles das, was über uns hinwegschreitet, weil wir ihm nichts gegeben haben, was uns selber mitnehmen kann, das zeigt sich uns in dem Bilde eines verzerrten Adlers. Diese drei Bilder sind durchsetzt mit unserem eigenen verzerrten Ebenbild. Aus der Art, wie diese drei Bilder miteinander in einem Verhältnis stehen, ergibt sich das Maß dessen, was wir noch an uns zu arbeiten haben. [8] Bisher haben eben immer die Weltenkräfte ausgereicht, um sozusagen die äußerste Verzerrung unseres Menschenbildes hintanzuhalten. In der Zukunft würden sie nicht ausreichen. Alle die verzerrten Menschenbilder sind der wahre Hüter der Schwelle. Wir selbst in unserem Gegenbild, wir erscheinen uns als der kleine Hüter der Schwelle. Wir selbst sind es, welche verhindern, daß wir vorher selbst in uns hineinsteigen können. [9]

Sobald der Mensch die mystische Versenkung sucht, muß er sich klar sein darüber, daß er in jedem Falle zu einem Menschen würde, der sich Halluzinationen hingibt, wenn er beim mystischen Hineinschauen in sein Inneres Gestalten außerhalb sieht und diese für etwas anderes ansehen würde, als was ihm sein Inneres spiegelt. Zu wirklichen Wesenheiten kommen wir beim Überschreiten dieser Spiegelbilder. [10]

So schrecklich die Gestalt dieses Hüters auch ist, sie ist doch nur die Wirkung des eigenen vergangenen Lebens des (Geistes-)Schülers, ist nur sein eigener Charakter, zu selbständigem Leben außer ihm erweckt. Es muß nun die Vorbereitung des Geheimschülers dahin zielen, daß er ohne eine jegliche Scheu den schrecklichen Anblick aushält und daß er im Augenblicke der Begegnung seine Kraft wirklich so gewachsen fühlt, daß er es auf sich nehmen kann, die Verschönerung des Hüters mit vollem Wissen auf sich zu laden.

Eine Folge der glücklich überstandenen Begegnung mit dem Hüter ist, daß der nächste physische Tod dann für den Geheimschüler ein ganz anderes Ereignis ist, als vorher die Tode waren. Für ihn ändert sich (durch den Tod) nichts von Bedeutung in seiner ganzen Umgebung. Die ganze übersinnliche Welt, in die er eingetreten ist, stand vor dem Tode schon in entsprechender Art vor ihm, und dieselbe Welt wird auch nach dem Tode vor ihm stehen. [11]

Jeder Mensch erhält im wahrsten Sinne des Wortes seine Arbeit von der Familien-, Volks- oder Rassenseele zugeteilt. Nun wird der Sinnesmensch jedoch keineswegs in den höheren Plan seiner Arbeit eingeweiht. Er arbeitet unbewußt an den Zielen der Volks-, Rassenseelen und so weiter mit. Von dem Zeitpunkte an, wo der Geheimschüler dem Hüter der Schwelle begegnet, hat er nicht bloß seine eigenen Aufgaben als Persönlichkeit zu kennen, sondern er muß wissentlich mitarbeiten an denen seines Volkes, seiner Rasse. Jede Erweiterung seines Gesichtskreises legt ihm unbedingt auch erweiterte Pflichten auf. Eine weitere Enthüllung, die ihm nun der Hüter der Schwelle macht, ist die, daß fernerhin diese Geister ihre Hand von ihm abziehen werden. Er muß aus der Gemeinsamkeit ganz heraustreten. Und er würde sich als Einzelner vollständig in sich verhärten, er würde dem Verderben entgegengehen, wenn er nun nicht selbst sich die Kräfte erwürbe, welche den Volks- und Rassengeistern eigen sind. 10.200fUnvorbereitet könnte den hier angedeuteten Anblick allerdings niemand ertragen; aber die höhere Schulung, welche dem Menschen überhaupt möglich macht, bis zur Schwelle vorzudringen, setzt ihn zugleich in die Lage, im entsprechenden Augenblicke die notwendige Kraft zu finden. Ja, diese Schulung kann eine so harmonische sein, daß dem Eintritt in das neue Leben jeder erregende oder tumultuarische Charakter genommen wird. Dann wird für den Geheimschüler das Erlebnis an der Schwelle von einem Vorgefühl jener Seligkeit begleitet sein, welche den Grundton seines neu erwachten Lebens bilden wird. Die Empfindung der neuen Freiheit wird alle anderen Gefühle überwiegen; und mit dieser Empfindung werden ihm die neuen Pflichten und die neue Verantwortung wie etwas erscheinen, das der Mensch auf einer Stufe des Lebens übernehmen muß. [12] (Siehe auch: Kentaur; Sphinx).

Zitate:

[1]  GA 89, Seite 134   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[2]  GA 124, Seite 94f   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[3]  GA 10, Seite 193   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[4]  GA 119, Seite 80ff   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[5]  GA 119, Seite 83   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[6]  GA 119, Seite 85   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[7]  GA 119, Seite 113f   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[8]  GA 119, Seite 115ff   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[9]  GA 119, Seite 117   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[10]  GA 119, Seite 119   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[11]  GA 10, Seite 198f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[12]  GA 10, Seite 203   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)
GA 89:  Bewußtsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie (1903-1906)
GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)