Kain und Abel

Bevor der Übergang stattfindet von Adam zu Seth, werden zwei geboren, die wiederum wichtige Repräsentanten sind: Kain und Abel. Die stehen dazwischen, sind Übergangsprodukte. Sie sind noch nicht in der Zeit geboren, wo ausgesprochen der Charakter der geschlechtlichen Fortpflanzung vorhanden war. Das können wir entnehmen aus dem, was «Abel» und «Kain» heißt. «Abel» heißt auf Griechisch «Pneuma» und auf Deutsch «Geist», und wenn wir die sexuelle Bedeutung nehmen, so hat das einen entschieden weiblichen Charakter. «Kain» dagegen heißt fast wörtlich «das Männliche», so daß in Kain und Abel einander gegenüberstehen das Männliche und das Weibliche. Noch nicht im rein Organischen: auf einer höheren, geistigen Stufe neigen sie zur Differenzierung. [1]

Wenn wir annehmen, der Mensch wäre von einem Gotte geschaffen seinem übersinnlichen Teile nach, wenn er hereintritt in die physische Welt, dann wäre es unerklärlich, daß er nach dem Tode in einen unvollkommenen Zustand übergehen könnte. Wir kommen erst dann zurecht, wenn wir bei der Entstehung des übersinnlichen Menschen zunächst dem luziferischen Prinzip den Zutritt gestatten. So kann also nicht der Mensch von einem Gotte bloß herstammen. Er muß herstammen nicht nur von einem Gotte, sondern von einem Gotte in Verbindung mit dem luziferischen Prinzip. [2]

Seit seiner Begründung durch Christian Rosenkreutz ist (nachfolgender) Mythos vielfach in Bruderschaften erzählt und interpretiert worden. Dieser Mythus hatte ungefähr folgenden Inhalt: Es gab eine Zeit, da schuf einer der Elohim den Menschen; einen Menschen, den er Eva nannte. Mit Eva verband sich der Elohim selbst und es wurde der Eva Kain geboren. Darauf schuf der Elohim Jahve oder Jehova den Adam. Adam verband sich ebenfalls mit Eva und aus dieser Ehe ging Abel hervor. Wir haben es also bei Kain mit einem unmittelbaren Göttersohn zu tun und bei Abel mit einem Sprößling des als Menschen geschaffenen Adam und Eva. Die Opfergaben, welche Abel dem Gotte Jahve darbrachte, waren dem Gotte angenehm. Aber die Opfergaben des Kain nicht, denn Kain war nicht auf direktes Geheiß von Jahve entstanden. Die Folge davon war, daß Kain den Brudermord beging. Deshalb wurde er von der Gemeinschaft mit Jahve ausgeschlossen. Er ging in entfernte Gegenden und wurde dort der Stammvater eines eigenen Geschlechtes.

Adam verband sich weiterhin mit Eva und zum Ersatz von Abel wurde Seth geboren, der auch in der Bibel vorkommt. So entstanden zwei Menschen-geschlechter: das erste von Eva und dem Elohim abstammend, das Geschlecht Kains; und das zweite von den bloßen Menschen abstammend, die auf Geheiß des Jahve sich verbunden haben. Von dem Geschlecht des Kain stammen alle ab, die auf der Erde Künste und Wissenschaften ins Leben gerufen haben, zum Beispiel Methusael, der die Schrift, die Tau-Schrift erfunden hat und Tubal-Kain, der die Bearbeitung der Erze und des Eisens lehrte. So entstand in dieser Linie, direkt von dem Elohim abstammend, die Menschheit, die sich in Künsten und Wissenschaften ausbildet. Aus diesem Geschlecht der Kains ging auch hervor Hieram. [3] Aus der anderen Linie, aus dem Geschlechte Seths stammte Salomo, der sich auszeichnete in alledem, was von Jahve oder Jehova herrührte. Er war ausgestattet mit der Weisheit der Welt, mit alledem, was die ruhige, klare, abgeklärte Weisheit bei den Jahvesöhnen liefern kann. Es war eine Weisheit, die eine unmittelbare inspirierte Gabe des Gottes ist, nicht eine von unten heraufgearbeitete, aus der menschlichen Leidenschaft, aus dem Menschenwollen hervorquillende Weisheit. Die fand sich bei den Kainssöhnen, bei denen, die unmittelbar von dem anderen Elohim abstammten. Das waren die strengen Arbeiter, die alles selbst erarbeiten wollen. [4] Wer sind nun die Kainssöhne? Die Kainssöhne sind – also im Sinne dieser Legende (Mythos) – die Söhne derjenigen Elohim, welche unter der Klasse der Elohim während der Mondenepoche ein wenig zurückgeblieben sind. In der Mondepoche haben wir es mit Kama zu tun. Dieses Kama oder Feuer wurde damals durchdrungen mit Weisheit. Nun (Anfang der Erdentwickelung) gab es zwei Arten von Elohim. Die einen Elohim blieben nicht stehen bei der Ehe zwischen Weisheit und Feuer; sie gingen darüber hinaus. Und als sie den Menschen formten, waren sie nicht mehr durchdrungen von Leidenschaften, so daß sie ihn mit ruhiger, abgeklärter Weisheit austatteten. Das ist die eigentliche Jahve- oder Jehovareligion, die Weisheit, die ganz leidenschaftslos war. Die anderen Elohim, bei welchen noch die Weisheit mit dem Feuer der Mondperiode verbunden war, sind diejenigen, welche die Kainssöhne schufen. Daher haben wir in den Söhnen Seths die religiösen Menschen mit der abgeklärten Weisheit und in den Kainssöhnen die, welche das impulsive Element haben, die sich entflammen und Enthusiasmus entwickeln können für Weisheit. Aus der Leidenschaft der Kainssöhne sind alle Künste und Wissenschaften entstanden, aus der Abel-Seth-Strömung alle abgeklärte Frömmigkeit und Weisheit, ohne Enthusiasmus. [5] Wir müssen uns also ganz im Sinne dieser Legende vorstellen, daß bis zum Erscheinen des Christus Jesus auf Erden zwei Strömungen vorhanden waren. Die eine, die den weltlichen Tempel baute, die die Taten der Menschen ausprägte, damit dann später das göttliche Wort, das durch den Christus Jesus auf die Erde gekommen war, aufgenommen werden kann. Ein Wohnhaus sollte bereitet werden der Erscheinung des göttlichen Wortes auf der Erde. Daneben sollte sich einstweilen das Göttliche selbst als eine Art von Nebenströmung in der zweiten Strömung durch die Zeiten heraufentwickeln. Daher unterschied man (in diesem Sinne) Menschensöhne, das Kainsgeschlecht, die das Weltliche vorbereiten sollten, von den Gottessöhnen, den Söhnen des Abel-Seth, die das Göttliche pflegten, bis beide Strömungen die Ehe miteinander eingehen konnten. Christus Jesus vereinigte beide Strömungen. [6]

Zitate:

[1]  GA 93, Seite 34f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[2]  GA 115, Seite 251f   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[3]  GA 93, Seite 58f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[4]  GA 93, Seite 60   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[5]  GA 93, Seite 62   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[6]  GA 93, Seite 156f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)

Quellen:

GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende. als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)