Jurisprudenz

Im Grunde genommen ist für Saint-Simon Jurisprudenz und die ihr zugrunde liegende Begrifflichkeit etwas, was nur wie ein Rest, wie ein Schatten zurückgeblieben ist aus jenen Zeiten, in denen Priesterherrschaft und Militär-herrschaft ihre Bedeutung gehabt haben, und sich heute ausnimmt wie eine Metaphysik, die nicht mehr wirkliches Leben hat, die sich nur noch fortpflanzt. Und diese Metaphysik findet man namentlich, so meint Saint-Simon, in der neueren Jurisprudenz und in alledem, was sich auf dem Umwege durch die Jurisprudenz in das staatliche Leben hineingeschlichen hat. [1]

Die gesamte römische Jurisprudenz war umgewandelte Willenskraft einer früheren Zeit. Der Wille selbst blieb dabei im Hintergrunde, und statt selbst Formen anzunehmen, verwandelte er sich in die Gedankenformen, die sich in den Rechtsbegriffen ausleben. [2]

Von der Notwendigkeit, den Menschen zu erkennen, muß man ja auf den verschiedensten Gebieten des menschlichen Wirkens reden. Man muß zum Beispiel in der Pädagogik sehr stark reden von dem Ausgangspunkt der Menschenerkenntnis. Das geschieht auch bei uns. Man muß auch auf andern Gebieten, wenn man auf die Realitäten hinsieht, von Menschenerkenntnis reden. Menschenerkenntnis wäre notwendig für jeden, der über das bloß Handlangerische hinauskommen will. Für jeden ist Menschenerkenntnis notwendig. Daß solch eine Menschenerkenntnis nicht gesucht wird auf den verschiedenen Gebieten, das ist eine Folge des Irrtümlichen, in das die moderne Zivilisation verfallen ist. Sehen Sie, in einem gewissen Sinne wird ja Menschenerkenntnis gesucht, wenn auch eine solche nicht zustande kommen kann, weil sie heute wirklich nur auf anthroposophischem Wege zustande kommen kann. Sie wird gesucht von den Theologen, ich meine von den äußeren Theologen. Auch von den äußeren Pädagogen wird sie gesucht. Sie wird von den verschiedensten Leuten gesucht, diese Menschenerkenntnis. Die einzigen, die sie nicht suchen, sind die Juristen, weil Jurisprudenz heute etwas ist, von dem man überhaupt gar nicht sprechen kann als von etwas, das überhaupt etwas ist, was in die Welt in Wirklichkeit eingreift. (Dieser Sachverhalt ist von einem großen Juristen, Rudolf von Ihering, einmal so formuliert worden: «Die normative Kraft des Faktischen». Damit sagt er, was normalerweise praktiziert wird, auch wenn es gegen gesetzliche Vorschriften verstößt, hat die Tendenz mit der Zeit selbst zur gesetzlichen Vorschrift erhoben zu werden.) [3]

Man kann sagen: Im Oriente drüben, in den alten Theokratien war das, was die Menschen als Geistiges über die übersinnlichen Welten wissen sollten, alles selbstverständliche Theosophie. Theo-Sophia ist die konkrete Weisheit, die empfangen wurde durch Inspiration. Als der Strom nach Europa herübergeht, stellt sich neben ihn die Jurisprudenz. Die Jurisprudenz kann keine Sophia mehr sein, denn sie handelt nicht von etwas, was einem eingegeben wird, sondern von etwas, was der Mensch selbst immer mehr und mehr im Verkehr von Mensch zu Mensch entwickelt. Da wird das Urteil maßgebend. Da tritt an der Stelle der Sophia die Logik auf, und die Jurisprudenz, in die jetzt alle soziale Struktur hineingegossen wird, wird vorzugsweise logisch. Die Logik, die Dialektik entwickeln ihre Triumphe, nicht etwa in der Naturwissenschaft, sondern gerade in dem juristischen Leben, und alles menschliche Leben wird in diesen zweiten Strom, in die Logik hineingezwängt. Begriff des Eigentums, Begriff des persönlichen Rechtes, all das sind ja realisierte logische Kategorien. Und die Sache hat eine so starke Kraft in dieser zweiten Strömung, daß diese Kraft auf die erste Strömung abfärbt. Aus der Theosophia wird eine Theologia. Der erste Strom wird also durchaus beeinflußt von dem zweiten Strom. Und wir haben jetzt nebeneinander ein Altbewahrtes, eine alte Theosophia, die, indem sie weniger lebendig, etwas dürrer, etwas magerer auch geworden ist, als sie in ihrer Jugend war, nun Theologia wird, und daneben die Jurisprudentia, die eigentlich in dieser Art alles umfaßt bis ins 15., 16., 17. Jahrhundert hinein, was in den verschiedenen Masken auftritt, die auch noch wirkt in dem gesamten wirtschaftlichen Leben der Menschheit. [4] Das Kriegerische ist nur eine andere Seite des Juristischen. [5]

Zitate:

[1]  GA 325, Seite 15   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[2]  GA 11, Seite 234   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[3]  GA 316, Seite 162   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)
[4]  GA 305, Seite 191   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)
[5]  GA 305, Seite 200   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 305:  Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben (1922)
GA 316:  Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst (1924)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)