Joga

Rhythmische Vorgänge sind weder in der Natur, noch im Menschen etwas Physisches. Man könnte sie halbgeistig nennen. Das Physische als Ding verschwindet im rhythmischen Vorgang. Im Erinnern ist der Mensch mit seinem Wesen in seinen und in den Naturrhythmus versetzt. Er lebt in seinem Astralleib. Indischer Joga will ganz in dem Erleben des Rhythmus aufgehen. Er will das Gebiet des Vorstellens, des Ich verlassen und in einem inneren Erleben, das dem Erinnern ähnlich ist, in die Welt schauen, die hinter dem liegt, was das gewöhnliche Bewußtsein kennen kann. Das westliche Geistesleben darf zum Erkennen das Ich nicht unterdrücken. Es muß das Ich an die Wahrnehmung des Geistigen heranbringen. Es kann das nicht geschehen, wenn man von der sinnenfälligen in die rhythmische Welt so vordringt, daß man im Rhythmus nur das Halbgeistig-Werden des Physischen erlebt. Man muß vielmehr die Sphäre der Geistwelt finden, die im Rhythmus sich offenbart. [1]

Den Menschen haben schon diese alten Leute besser gekannt, als ihn die heutigen kennen. Und darauf haben sie ganz besonders gedrungen, daß ihre Lunge in eine andere Tätigkeit kommt, als sie sonst im Leben ist. Und die Lunge hat dann wiederum das Gehirn angeregt. So daß eigentlich die Lunge in diesen alten Zeiten dasjenige war, wovon all das schöne Wissen der Urweisheit gekommen ist. [2]

Im alten Indien hatte man instinktive Bestrebungen, um zu einer höheren Erkenntnis zu kommen. Diese instinktiven Bestrebungen, die in dem Joga lebten, benützten den Atmungsprozeß, um auf physische Weise, möchte ich sagen, dahin zu kommen, diesen Atmungsprozeß selber als einen geistig-seelischen Vorgang zu erleben. Indem in der orientalischen Jogaübung das Atmen – Einatmen, Atemhalten, Ausatmen in einer gewissen Weise geregelt wird und eine Hingabe an diesen Atmungsprozeß stattfindet, saugt man gewissermaßen dadurch das Geistig-Seelische aus diesem Atmungsprozeß heraus. Man sondert den Atmungsprozeß von dem Bewußtsein ab gerade dadurch, daß man ihn hereindrückt, und man behält dann das Geistig-Seelische übrig. Diesen Prozeß, der in der Jogaübung durchgemacht worden ist, können wir nach der Organisation unserer gegenwärtigen (westlichen) Kultur nicht nachmachen; und wir sollen ihn nicht nachmachen. Er würde uns herunterwerfen in die leibliche Organisation. Es liegt gewissermaßen unser Seelenleben nicht mehr auf dem Felde, auf dem das Seelenleben des Inders lag. Der hatte das Seelenleben mehr noch gegen die Sensibilität hin; wir haben es gegen die Intellektualität hin. Und in der Sphäre der Intellektualität würde das Jogaatmen den Menschen in die Gefahr bringen, seine leibliche Organisation zu zerstören. Beim Leben in dem intellektuellen Felde ist man genötigt, solche Übungen anzuwenden, wie ich sie beschrieben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Diese halten sich rein im Geistig-Seelischen. Sie lassen höchstens anklingen – aber das auch nur selten oder gar nicht für die meisten Fälle – etwas von dem leiblich-physischen Atmungsprozeß. Das Wesentliche aber läuft für unsere Übungen zur Erlangung der Imagination rein im Geistig-Seelischen ab, in der Sphäre, die der Mensch erlebt, wenn er geometrisiert und mathematisiert. Auch das, was für die Inspiration getan werden muß, läuft in dieser Sphäre ab. [3] (Siehe auch: Atemübungen – Problematik).

Ein materielles Abbild des geistigen Vorganges der Einbettung der Monade in den niederen Menschen ist das Atmen. Atmen heißt: das Einziehen der Monade. Im Hathajoga macht der Schüler deshalb auch einen Atmungsprozeß durch. Der Schüler regelt rhythmisch, was der Mensch als natürlichen Vorgang hat, um das Atmen, das heute ein natürlicher Vorgang ist, unter seine Herrschaft zu bekommen. So wie, bevor der Mensch zu diesem Atmungsprozeß überging, er in ähnlicher Weise von außen Wärme aufnahm und abgab und dieses sich in den Prozeß des zirkulierenden warmen Blutes verwandelte, so sucht der Hathajoga-Schüler auch den Atmungsprozeß zu einem Inneren zu gestalten, ihn innerlich in seine Gewalt zu bekommen. Die Hathajoga-Regeln bedeuten die Verwandlung der Atmung in einen solchen Prozeß, der nicht von innen nach außen geht, sondern in einen innerlich geregelten Prozeß, so wie jetzt auch der Blutkreislauf ein geregelter innerer Prozeß ist. Bei den wechselwarmen Tieren verhält sich der Prozeß der Blutzirkulation zu demjenigen des Menschen so, wie der Atmungsprozeß beim gewöhnlichen Menschen zu dem Atmungsprozeß des Hathajoga-Schülers. Hinter all diesen Dingen stecken ganz tiefe Entwickelungsgedanken, die die Grundlage von realen Prozessen sein sollen, (denn) was jetzt gewöhnlich gar nicht mehr verstanden wird, ist, daß in der Luft etwas vorhanden ist, was geistig ist. Als noch ein Bewußtsein davon vorhanden war, nannte man den Geist: Luft, Wind = Pneuma. 93a.236fJoga-Methode brachte den Menschen dazu, zunächst bis zu einem gewissen Grade das Denkinstrument des Gehirnes auszuschalten, sogar alles das auszuschalten, was das übrige höhere Nervensystem vermittelt. Zum Instrumente jenes streng innerlichen Schauens in den Joga-Methoden wurde gerade derjenige Teil des menschlichen Nervensystems gemacht, der uns heute in der Naturwissenschaft wie ein untergeordneter Teil erscheint, der aber im engsten Sinne an die Verrichtungen des menschlichen Organismus selber gebunden ist, das, was wir mit dem Sonnengeflecht und mit dem sympathischen Nervensystem bezeichnen. Weil dieses untergeordnete Nervensystem an die Daseinskräfte und an die Lebenskräfte gebunden ist und innig mit dem zusammenhängt, wodurch der Mensch selber in das göttlich-geistige Dasein eingetaucht ist, weil es also mit den Quellen des Menschendaseins zusammenhängt, so erkannte man mit Hilfe dieses Instrumentes nicht nur das Hereinleuchten des Geistigen in den menschlichen Organismus; sondern wie man mit dem Auge hineinschaut in die Lichteswelten, so schaute man mit dem Instrument des sympathischen Nervensystems in die Geisteswelten hinein, erblickte in ihnen konkrete Tatsachen und Wesenheiten. [4]

Die Hingabe an den Joga ist daher ein allmähliches Erwecken der höheren Kräfte der Seele, so daß die Seele sich hineinlebt in etwas, in dem sie im alltäglichen Leben nicht steht und das ihr immer höhere und höhere Stufen des Seins erschließen kann. Joga ist daher der Weg in die geistigen Welten, der Weg zur Befreiung der Seele von den äußeren Formen, der Weg zum selbständigen Seelenleben in seinem Inneren. Die andere Seite der Sankhya-Philosophie ist der Joga. Er bekam seine große Bedeutung, als jene wie durch eine Gnade von oben kommende Inspiration, die die Veden noch inspiriert hat, nicht mehr da sein konnte. Der Joga mußte angewendet werden von denjenigen Seelen, die, einer späteren Menschheitsepoche angehörig, nichts mehr von selbst geoffenbart erhielten, sondern die sich hinaufarbeiten mußten zu den Höhen des geistigen Seins von den unteren Stufen her. [5]

In den ersten Zeiten der atlantischen Entwickelung (siehe: Atlantis) gab es ein unmittelbares Wahrnehmen der Sonnenwirkungen (außer den heute sichtbaren). Dann verschlossen sich die Menschen diesen Wirkungen. Und als diese nicht mehr in den Menschen hereindringen konnten, während das menschliche Innenleben dafür immer mehr und mehr aufblühte, da waren es nun die heiligen Mysterien, welche ihre Bekenner so zur Entwickelung der geistigen Kräfte brachten, daß der Mensch sozusagen entgegen den normalen Erdverhältnissen, durch das, was man mit Joga bezeichnen kann, die Sonnenwirkungen unmittelbar wahrnehmen konnte. Dadurch daß deren Schüler das bloße sinnliche Wahrnehmen zunächst unterdrückten, konnten sie die Offenbarungen des Klangäthers (auch Ton- oder chemischer Äther genannt) und des Lebensäthers wahrnehmen. Und diese Möglichkeit blieb erhalten für die wirklichen Stätten der Geheimwissenschaft in der nachatlantischen Zeit. Es ist ja so stark geblieben, daß selbst die äußere Wissenschaft, ob sie es zwar nicht versteht, noch eine Überlieferung aus der Schule des Pythagoras bewahrt hat, die dahin geht, daß man die Sphärenharmonie hören kann. Nur verwandelt die äußere Wissenschaft so etwas, wie die Sphärenharmonie gleich in ein Abstraktum – was sie aber nicht war – und denkt nur nicht das, was sie ist. Denn in Wirklichkeit verstand man in den Pythagoreerschulen unter der Fähigkeit der Wahrnehmung der Sphärenharmonie das reale Sich-wieder-Öffnen der menschlichen Wesenheit dem Klangäther, der Sphärenharmonie, und dem realen göttlichen Lebensäther. [6]

Man kennt historisch eigentlich nur die späteren Jogamethoden, die zum großen Teil auf dem Egoismus der Menschen beruhen, die irgend etwas Machtvolles in der äußeren Welt haben wollen. Die älteren Joga-Methoden, die eigentlich heute nur mehr gefunden werden können durch spirituelle Wissenschaft, nicht durch äußere Wissenschaft, waren Wege, die der Mensch einschlug zum Geiste.

Wenn wir mit unseren heutigen physiologischen Erkenntnissen uns fragen: Was geschieht dann, wenn wir intellektualisieren? – Nun, es geschieht etwas in unserem Nervensystem, in unserem Gehirn und demjenigen, was durch die Nerven zum Gehirn gehört im übrigen Organismus. Aber dasjenige, was da in den Nerven geschieht, es könnte niemals geschehen, wenn nicht eine viel wahrnehmbarere Tätigkeit sich mit den Vorgängen unseres Gehirns vermischen würde. Unaufhörlich von der Geburt bis zum Tode atmen wir ein, halten den Atem, atmen wir aus. Wenn wir einatmen, geht die Atemluft in unseren ganzen Organismus über. Der Atemstoß wird (als Schwingung) durch den Rückenmarkskanal in das Gehirn getrieben. Wir atmen nicht nur mit der Lunge, wir atmen auch mit dem Gehirne. Fortwährend ist unser Gehirn in Bewegung. Das geht – uns heute ganz unbewußt – vor sich. Der Jogi sagte: Da geht etwas vor im Menschen, dessen will ich bewußt werden. So atmete er nicht in der gewöhnlichen Weise unbewußt, sondern er atmete abnorm; er atmete anders ein, hielt den Atem anders, atmete anders aus. Dadurch wurde er sich des Atmungsprozesses bewußt. Und so empfand er allmählich, wie im Gehirne sich verband das Atmen mit demjenigen, was als die materielle Tätigkeit dem Denken zugrunde liegt. Er suchte diese Verbindung zwischen Denken und Atmen, und er empfand schließlich, wie der Gedanke, der für uns etwas Abstraktes ist, sich auf den Wellen des Atems durch den ganzen Leib bewegt. Da war der Gedanke nicht nur im Gehirn, nicht nur in der Lunge, nicht nur im Herzen, da war der Gedanke in jeder Fingerspitze. Da erlebte man, indem man den Atem real durch sich durchpulsen fühlte, wie der Geist schöpferisch ist durch den Atem im Menschen: «Und Gott blies dem Menschen den lebendigen Odem ein, und er ward eine Seele.» Nicht nur am Anfange blies er den Atem ein, sondern er bläst fortwährend im Atem ein. Und im Atemprozesse, nicht im Denken, nicht im intellektuellen Prozeß, werden wir Seele. [7] Wir haben den passiven, nicht den aktiven Geist in der Intellektualität. Wir können heute, weil wir anders organisiert sind, diesen Joga-Prozeß nicht mehr nachmachen, sollen es auch nicht tun. Der Jogi suchte seinen Menschen im Atem. Wir moderne Menschen müssen unseren Menschen verlieren in einer Ohnmacht, die wir empfinden gegenüber dem Gedanken-Bild, dem Intellektualistischen. Dann müssen wir uns sagen können: Jetzt gehen wir nicht nach dem Inneren, wie der Jogi gegangen ist, nach dem Atemprozesse, jetzt gehen wir nach dem Äußeren und leben mit das Äußere. Man taucht ganz unter in die äußere Welt. Da wird man hingenommen von der äußeren Welt. Man wacht wieder auf wie aus einer Ohnmacht. Aber man bekommt jetzt nicht mehr abstrakte Gedanken, man bekommt Imaginationen. Man bekommt Bilder. [8]

Eine Verbindung, ein Ineinanderwirken, ein Sichharmonisieren der Nerven- Sinnes-Vorgänge und der Atmungsrhythmus-Vorgänge, die finden immer statt, wenn wir unser Gedankenleben ablaufen lassen. [9] Geradeso, wie der Jogi gewissermaßen sein Denken nach dem Inneren des Leibes getrieben hat, um es mit dem Rhythmus seines Leibesatems zu verbinden und so sein Selbst, seine innere Geistigkeit zu erleben, geradeso lösen wir das Denken los auch von dem Rest des Atmungsprozesses, der unbewußt in all unserem gewöhnlichen Denken lebt. Indem wir das logische Denken losreißen von dem Organismus, an den es eigentlich gebunden ist als logisches Denken, dringen wir mit diesem logischen Denken in den äußeren Rhythmus der Welt ein, ja wir erfahren jetzt erst, daß es einen solchen äußeren Rhythmus gibt. Jetzt lassen wir das Denken einlaufen in eine Art musikalischen Elementes, das aber durchaus ein Erkenntniselement ist, wir gewahren einen Rhythmus, der auf dem Grund aller Dinge als ein geistiger Rhythmus vorhanden ist, wir dringen ein in die Welt, indem wir sie im Geiste beginnen wahrzunehmen. Unser Denken wird aus dem abstrakten toten Denken, aus dem bloßen Bilddenken ein in sich selbst belebtes Denken. [10] (Siehe auch: Asana; Schulung).

Zitate:

[1]  GA 26, Seite 221   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[2]  GA 350, Seite 254   (Ausgabe 1962, 314 Seiten)
[3]  GA 78, Seite 122f   (Ausgabe 1986, 183 Seiten)
[4]  GA 62, Seite 201   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[5]  GA 142, Seite 21f   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[6]  GA 123, Seite 66   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[7]  GA 305, Seite 31ff   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)
[8]  GA 305, Seite 33ff   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)
[9]  GA 83, Seite 28   (Ausgabe 1981, 388 Seiten)
[10]  GA 83, Seite 36ff   (Ausgabe 1981, 388 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 78:  Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte (1921)
GA 83:  Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie (1922)
GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)
GA 142:  Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe (1912/1913)
GA 305:  Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben (1922)
GA 350:  Rhythmen im Kosmos und im Menschenwesen. Wie kommt man zum Schauen der geistigen Welt? (1923)