Goethe – Faust – Reich der Mütter

Nun kommt aber im «Faust» auch zur Darstellung, wie die unvergängliche geistige Wesenheit zu den vergänglichen Hüllen des Menschen in Beziehung steht. Dieses Unvergängliche muß Faust bei den «Müttern» aufsuchen. Und damit ergibt sich ungezwungen die Erklärung dieser wichtigen Szene im zweiten Teile des «Faust». Als eine Dreiheit (in Übereinstimmung mit der theosophischen Lehre von Atma-Budhi-Manas) stellt sich Goethe das eigentliche Wesen des Menschen vor. Und den Gang zu den «Müttern» kann man, in theosophischer Sprache ausgedrückt, ein Eindringen Fausts in das devachanische Reich nennen. Dort soll er finden, was von Helena vorhanden ist. Sie soll sich ja wiederverkörpern, das heißt, sie soll aus dem Reiche der «Mütter» zurückkehren auf die Erde. Im dritten Akt sehen wir sie in der Tat wiederverkörpert. Dazu war notwendig eine Vereinigung der drei Naturen des Menschen: der astralischen, physischen und spirituellen. Am Ende des zweiten Aktes hat sich das Astralische (Homunculus) mit der physischen Hülle umgeben, und diese Vereinigung kann jetzt die höhere Natur in sich aufnehmen. In solcher Auffassung kommt innere dramatische Einheit in die Dichtung, während bei einem nicht okkulten Eindringen die einzelnen Geschehnisse nur eine willkürliche Zusammenfügung poetischer Aggregate blieben. Goethe denkt sich den Mephistopheles als ein Wesen, dem das devachanische Reich unbekannt ist. Er ist nur im Astralischen heimisch. Daher kann er Dienste leisten beim Entstehen des Homunculus; aber er kann Faust nicht in das Reich der «Mütter» begleiten. Ja, für ihn ist dies Reich sogar ein «Nichts». [1]

Bedenken Sie, was nun Faust eigentlich erleben soll. Würde es sich bloß um imaginative Erkenntnisse handeln, so würde er nur regelrecht meditativ eingeführt zu werden brauchen, aber, wie gesagt, er soll magische Handlungen vollziehen. Dazu ist notwendig, daß der gewöhnliche Verstand, der gewöhnliche Intellekt, in dem der Mensch die Sinneswelt wahrnimmt, aufhört. Dieser Intellekt beginnt, wenn die Inkarnation im physischen Leibe beginnt, hört auf mit dem physischen Tode. Dieser Intellekt soll abgedämpft, abgetrübt werden. Davor steht Faust also, daß dieser Intellekt seine Wirksamkeit einstellen soll. In eine andere Region soll er mit seiner Seele aufgenommen werden. Das ist natürlich etwas, was bedeutungsvoll in die Entwickelung des Faust eingreifen soll. Von Seiten des Mephisto gesehen – wie nimmt sich denn da die Sache aus? Nicht wahr, dadurch, daß Mephisto den Faust in diesen andern Bewußtseinszustand versetzen soll, wird die Sache gefährlich. Aber sie wird gewissermaßen auch für Mephisto höchst unbehaglich, sie wird auch für Mephisto in gewissem Sinne gefährlich. Denn, was kann passieren? Entweder Faust kommt hinüber in den andern Bewußtseinszustand, lernt die andere Welt kennen, aus der er höhere Kräfte herauszaubern kann, und er kommt mit seinem vollen Bewußtsein hin und zurück, dann entwächst er dem Mephisto, denn Faust lernt eine Welt erkennen, in der Mephisto nicht zu Hause ist. Damit ist er entwachsen dem Mephisto. Oder aber das gelingt in der denkbar schlechtesten Weise, dann würde Faust in seinem Verstande getrübt werden. Mephisto setzt sich selber wirklich in eine höchst peinliche Situation. Aber er muß etwas tun. Er muß Faust die Möglichkeit geben, sein Versprechen zu erfüllen. Er hofft, daß in irgendeiner Weise sich die Sache applanieren lassen werde, denn er will weder das eine noch das andere. Er will nicht, daß Faust ihm entwächst, noch will er auch, daß Faust ganz und gar paralysiert werde. Persönlich ist Goethe dieses ganze Verhältnis zu den Müttern vor die Seele getreten aus der Lektüre des Plutarch. Plutarch, der griechische Schriftsteller, den Goethe gelesen hat, spricht von den Müttern. Insbesondere eine Szene im Plutarch scheint auf Goethe dem Gemüte nach einen tiefen Eindruck gemacht zu haben: Die Römer sind mit den Karthagern im Kriege, Nikias ist römisch gesinnt, und er will die Stadt Engyion den Karthagern entreißen. Er soll an die Karthager deshalb ausgeliefert werden. Da stellt er sich wahnsinnig und läuft auf den Straßen herum und ruft: Die Mütter, die Mütter verfolgen mich! – Sie sehen daraus, daß in der Zeit, von der Plutarch spricht, man diese Verwandtschaft der Mütter nicht mit dem gewöhnlichen sinnlichen Verstande, sondern mit einem Zustand des Menschen, wo dieser sinnliche Verstand nicht da ist, in Zusammenhang bringt. Zweifellos hat alles dasjenige, was Goethe im Plutarch gelesen hat, ihm die Anregung gegeben, den Ausdruck, die Idee der Mütter einzuführen in den Faust. [2]

Zitate:

[1]  GA 35, Seite 29ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[2]  GA 273, Seite 85f   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)