Gnade

Jeder Okkultist ist sich heute darüber klar, daß dieser Begriff der Gnade zu seiner inneren Lebenspraxis in einem ganz besonderen Grade gehören muß. Wie ist das gemeint? Alles, was mit einer gewissen Erkenntnisbegierde verbunden ist, mit einer Sucht so schnell als möglich zu einer gewissen Summe von Begriffen zu kommen, daß alles das, wenn auch nicht in vollständigen Irrtum, so doch ganz sicher in eine Entstellung der Wahrheit hineinführen wird. Denn da gibt es gerade ein goldenes Wort gerade für den okkult Forschenden: Geduld haben und warten, bis nicht wir die Wahrheiten erfassen wollen durch uns, sondern bis sie zu uns kommen. Diese Begierde des Erkennens zu unterdrücken, ist notwendig für die heutige Zeit. Man soll sich vielmehr sagen: Die Gnade hat mir eine Anzahl von Wahrheiten gebracht, und ich werde geduldig warten, bis weitere Wahrheiten mir zuströmen. Es ist heute (1911) wirklich ein gewisses passives Verhalten gegenüber den Wahrheiten mehr notwendig als vielleicht vor zwanzig Jahren. Das ist aber nötig, weil unsere Geistsinne erst ganz heranreifen müssen, um die Wahrheiten in ihrer richtigen Gestalt in uns hereinzulassen. Es ist grundfalsch, wenn die Menschen glauben, ergreifen zu können, was ihnen in einer gewissen passiven Weise zuströmen soll. Denn dessen müssen wir uns bewußt sein, daß wir das, was wir sein sollen, doch nur sein können, insofern wir von den geistigen Mächten gewürdigt werden, dies oder jenes zu sein. Und alles, was wir tun können an Meditationen, Kontemplationen und so weiter, ist im Grunde genommen nur dazu da, um unsere Augen zu öffnen, nicht um die Wahrheiten zu ergreifen, die zu uns kommen müssen, denen wir nicht nachlaufen dürfen. [1]

Zitate:

[1]  GA 131, Seite 104f   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)

Quellen:

GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)