Gespenster oder Spektren

Inälteren Zeiten wurde das eben aufgenommen von dem Menschen im wachenden Zustande, was er schlafend erlebt hatte, weil seine Sinne nicht so hinorientiert waren auf die Außenwelt, wie das heute der Fall ist; und so konnte damals der Mensch im Vereine mit der Götterwelt leben. Die Götter kann man mit Sinnen ohnedies nicht anschauen, und der alte Mensch war dazu veranlagt, nun wenigstens die Göttertaten zu erleben. Nun aber kam später eine Zeit – es war im wesentlichen das Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha –, da begannen auch in der orientalischen Welt die Sinne, namentlich die Augen der Menschen empfänglich zu werden für die Eindrücke der Außenwelt. Jetzt erlebten die Menschen zwar auch noch etwas, weil die Götter noch nicht ganz von ihnen fortgegangen waren, aber das nahm die Sinnesorganisation gleich in sich herein, und die Folge davon war, daß über einen großen Teil der Menschheit dieses Eigentümliche kam, daß die Götter, die geistigen Wesenheiten, gewissermaßen hereingeholt wurden in die sinnliche Organisation. Aus der ehemaligen rein geistigen Anschauung der göttlich-geistigen Wesenheiten wurde der Glaube an Gespenster. Dieser ist nicht etwa etwas, was uralt ist in der Menschheit. So daß man sagen kann: der Gespensterglaube ist der letzte Ausläufer, das Ende einer hohen, wenn auch träumerischen geistigen Anschauung, die einstmals eine hohe Kulturblüte in der Entwickelung der Menschheit bedeutet hat. [1]

Die Menschen haben geredet von den Gespenstern im zweiten, im ersten nachatlantischen Kulturzeitalter, indem sie sich bewußt waren: Das, was sie vorstellen, das ist ein Ergebnis ihrer Vorstellungskraft. Sie können sich nach ihrer Vorstellungskraft nur Gespenster vorstellen, aber diese sind Bilder von der dahinterstehenden geistigen Welt. Dann aber hatte man die geistige Welt mehr oder weniger vergessen, besser gesagt, aus der Anschauung verloren; es blieben die bloßen Bilder, die man dann als Realitäten ansah, und daraus entstand der Gespensteraberglaube, der also Verfall desjenigen ist, aus dem er hervorgegangen ist. Nicht daß die Gespenster falsch gewesen wären, sondern die Ansicht der Menschen über die Gespenster ist falsch geworden. [2]

Das menschliche Bewußtsein tut heute eigentlich kurioserweise auch nichts anderes als Gespenster ausdenken, nur daß die Alten Gespenster über die Götter ausgedacht haben, und die modernen Menschen Gespenster über die Naturtatsachen ausdenken. Denn dasjenige, was sich die modernen Menschen als Naturwissenschaft vorstellen, ist nicht die Natur, sondern verhält sich zur Natur wie ein Gespenst zur Wirklichkeit. Der Unterschied ist nur der, daß die Vorfahren schönere Gespenster hatten als die Gespenster sind, welche die heutige naturwissenschaftlichen Denker fabrizieren. Die Alten haben nicht im Zeitalter der Bewußtseinsseele gelebt, daher durften sie unbewußt bleiben über die Tatsache, daß sie Gespenster vorstellen. Unsere Naturforscher stellen auch Gespenster vor; aber wir haben im Zeitalter der Bewußtseinsseele die Aufgabe, zu wissen, daß wir auch Gespenster vorstellen, daß wir nicht die Natur vorstellen, sondern nur Naturgespenster. So müssen wir gerade im Zeitalter der Bewußtseinsseele aufsteigen zu dem wirklichen Geständnis: Unsere naturwissenschaftlichen Gespenster sind nicht Wirklichkeiten, sondern sie sind Hinweise auf die Wirklichkeiten, die man eigentlich durch sie suchen soll. [3]

Das Menschengeschlecht ist eben durchaus in Entwickelung begriffen. Es muß sich erst hinbewegen zu einer solchen Geistigkeit, daß wenn der Mensch in sich hineinschaut, und er seine Triebe, Instinkte, Begierden wahrnimmt, er in ihnen überall Geistiges wahrnimmt. Das wird er einmal in Zukunft tun. Dabei macht es gar keinen Unterschied, ob der Mensch etwa böse oder gute Instinkte hat; es sind dann halt ahrimanische oder luziferische Geistigkeiten, die in ihm stecken, wenn es böse Instinkte sind, aber es sind Geistigkeiten. Mit diesem Vorgeben, daß wir Triebe, Instinkte haben als die treibenden Motoren im Menschen ist es nämlich auch nicht anders, als es mit den Gespenstern in bezug auf die Geistigkeit von früher war. Alle Triebe, Instinkte, Begierden, das sind Gespenster, die heute vorangehen einer Geistigkeit; während die alten Gespenster nachgefolgt sind einer früheren Geistigkeit. [4] Der heutige Gelehrte muß aus der Anschauung heraus, die er hat, den Menschen Triebe, Instinkte, Begierden beilegen und sieht mit Verachtung auf den Gespensterglauben der großen Masse herab. Er (selbst) ist gespenstergläubig für die Gespenster des Anfangs, wie die große Masse gespenstergläubig ist für die Gespenster des Endes. Die Gespenster, die man gewöhnlich so nennt, sind durch die menschliche Organisation versinnlichte Geister, und die Triebe, Instinkte, Begierden und Leidenschaften sind noch nicht bis zur Geistigkeit gebrachte, noch nicht entsinnlichte, auf die Zukunft hinweisende moderne Gespenster. [5]

Zitate:

[1]  GA 212, Seite 164f   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[2]  GA 184, Seite 260f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[3]  GA 184, Seite 263f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[4]  GA 212, Seite 167f   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[5]  GA 212, Seite 169   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)

Quellen:

GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)