Geschlechtlichkeit

Man sagt innerhalb der Mysterienlehren, daß gleichsam der letzte Schritt ins Leben, das der Mensch von der Natur oder von Gott empfängt, zusammenhängt mit dem Gotte Dionysos. Und da berühren wir eines der tiefsten Geheimnisse des griechischen Mysterienwesens, nämlich dasjenige, was man die Geschlechtsreife des Menschen nennt. Der Zeitpunkt, wo er heraustritt aus dem undifferenzierten Geschlechtsleben zu dem differenzierten des Mannes und des Weibes, ist noch der letzte Schritt, den die Natur mit dem Menschen vollbringt, indem Sie ihn zu dieser Reife führt, ihn bis dahin bringt, daß in ihm der Trieb erwacht zu dem anderen Geschlecht. Was er dann aus diesem Trieb macht, wie er ihn veredelt, wie er ihn mit Seele durchdringt, und was in geistiger Beziehung aus der Liebe gemacht wird, das ist dann des Menschen eigenes Werk. Die Kraft, die nun sich für den Mysterienzögling ausdrückt in aller Natur, in aller Erkenntnis, in aller Sinnlichkeit und in allen seelischen Kräften auf den verschiedenen Stufen, die erkennt er nun auch in dieser Hinneigung des einen Geschlechtes zu dem anderen. [1]

Plato weist auf diese Zeit hin, in der es noch nicht Mann und Weib gab, indem der Mensch noch Mann und Weib zugleich war. Es deutet ja auch die biblische Sage auf ein solches undifferenziertes Menschengeschlecht hin, und der Sündenfall ist im Grunde nichts anderes als die symbolische Darstellung der Geschlechts-differenzierung. Im Laufe der Entwickelung hat der Mensch sich sein einseitiges Geschlecht erworben. Er hat die Hälfte seiner Produktivkraft verloren. Und diese Hälfte ist auf der anderen Seite erwacht als die Kraft unserer Seele, als die Kraft unseres Geistes. Dadurch ist dem Menschen das möglich geworden, was wir im gegenwärtigen Sinne sein Selbstbewußtsein nennen, was wir die Fähigkeit nennen, daß er zu sich «Ich» sagen kann, daß er ein selbständiges Wesen ist, daß er, wenn wir uns bildlich ausdrücken dürfen, aus der Hand der Götter entlassen worden ist und sein eigener Bildner geworden ist. So hängt es in der Entwickelung zusammen, daß der Mensch diejenige Kraft fühlt, die zwar die Grundlage seines Egoismus bildet, die ihn aber zu einem freien, selbstbewußten Wesen macht. So wiederholt sich auf jeder Stufe, wo das Geschlechtliche in irgendeiner Weise seine weitere Entwickelung findet, dieses Selbständigwerden, Freiheitlicherwerden des Menschen. [2]

Zitate:

[1]  GA 54, Seite 346f   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[2]  GA 54, Seite 348f   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)

Quellen:

GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)