Geschlecht

Solange die Seele noch über den Stoff herrschen konnte, gestaltete sie ihren Leib weder männlich noch weiblich, sondern gab ihm Eigenschaften, die beides zugleich waren. Denn die Seele ist männlich und weiblich zugleich. Sie trägt in sich diese beiden Naturen. Ihr männliches Element ist dem verwandt, was man Willen nennt, ihr weibliches dem, was als Vorstellung bezeichnet wird. Der männliche Leib hat eine Gestalt angenommen, die aus dem Element des Willens bestimmt ist, der weibliche hingegen trägt mehr das Gepräge der Vorstellung. So kommt es denn, daß die zweigeschlechtliche, männlich-weibliche Seele in einem eingeschlechtlichen, männlichen oder weiblichen Leib wohnt. Der Leib hatte also im Laufe der Entwickelung eine durch die äußeren Erdenkräfte bestimmte Form angenommen, daß es fortan der Seele nicht mehr möglich war, ihre ganze innere Kraft in diesen Leib auszugießen. Sie mußte etwas von dieser ihrer Kraft in ihrem Innern behalten und konnte nur einen Teil derselben in den Leib einfließen lassen. [1] Dieser Kraftteil richtet sich nun nach dem Innern des Menschen. Er kann nicht nach außen treten; deshalb wird er für die inneren Organe frei.

Vorher hat das, was man den Geist nennt, die Fähigkeit des Denkens, nicht im Menschen Platz finden können. Denn diese Fähigkeit hätte kein Organ gefunden, um sich zu betätigen. Die Seele hatte all ihre Kraft nach außen verwendet, um den Leib aufzubauen. Jetzt aber kann die Seelenkraft, die nach außen hin keine Verwendung findet, mit der Geisteskraft in Verbindung treten; und durch diese Verbindung entwickeln sich die Organe im Leibe, die später den Menschen zum denkenden Wesen machen. So konnte der Mensch einen Teil der Kraft, die er früher zur Hervorbringung von seinesgleichen verwendet, zu einer Vervollkommnung seines eigenen Wesens verwenden. Die Kraft, durch die sich die Menschheit ein denkendes Gehirn formt, ist dieselbe, durch welche sich in alten Zeiten der Mensch befruchtet hat. Das Denken ist erkauft durch die Eingeschlechtlichkeit. Indem die Menschen nicht mehr sich selbst, sondern sich gegenseitig befruchten, können sie einen Teil ihrer produktiven Kraft nach innen wenden und zu denkenden Geschöpfen werden. So stellt der männliche und der weibliche Leib je eine unvollkommene Gestaltung der Seele nach außen dar; aber sie werden dadurch in ihrem Inneren vollkommenere Geschöpfe. Für das Äußere wird fortan der Mensch von außen befruchtet, für das Innere von innen, durch den Geist. Man kann nun sagen, daß der männliche Leib eine weibliche Seele, der weibliche Leib eine männliche Seele hat. Diese innere Einseitigkeit im Menschen wird nun durch die Befruchtung mit dem Geiste ausgeglichen. Auf die männliche Seele im Weibe wirkt der Geist weiblich und macht sie so männlich-weiblich; auf die weibliche Seele im Manne wirkt der Geist männlich und bildet sie so gleichfalls männlich-weiblich. Die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen hat sich aus der Außenwelt, wo sie in der vorlemurischen Zeit vorhanden war, in das Innere des Menschen zurückgezogen. Man sieht das höhere Innere des Menschen hat nichts zu tun mit Mann und Weib. [2] Das Weib hat im Innern männliche Eigenschaften, der Mann weibliche. [3] Den Ursprung der beiden Geschlechter finden wir in der astralischen Welt. So wie das Eis aus dem Wasser, so ist das, was in der physischen Welt als Männliches und Weibliches uns entgegentritt, aus dem Gegensatz höherer Prinzipien gebildet. Dieser Gegensatz stellt sich uns am besten dar, wenn wir ihn charakterisieren als den Gegensatz von Leben und Form. In allem Leben und Dasein müssen zusammenwirken Leben und Form. Das Abbild des Lebens ist das Männliche, das jedoch, was das Leben in eine gewisse Form bringt, drückt sich aus im Weiblichen. [4]

Der Ätherleib hat immer einen dem Geschlecht des physischen Leibes entgegengesetzten Charakter. Der Ätherleib eines Mannes ist weiblichen, der einer Frau männlichen Geschlechts. Der Astralleib ist beim Mann wie bei der Frau doppelgeschlechtlich. Er ist also in dieser Beziehung eine Synthese der beiden anderen Leiber. [5]

Mit dem Auszug des Mondes verwandelte sich ein Teil der Menschenleiber in solche mit männlichem Charakter. Er nahm also die befruchtenden Kräfte in sich auf, die vorher gleichsam in dem Safte der Erde selbst enthalten waren. Die weibliche Natur des Menschenleibes erfuhr eine solche Umbildung, daß sie von dem entstandenen Männlichen befruchtet werden konnte. – Dies alles geschah dadurch, daß eine Art doppelgeschlechtiger Menschenleib in einen ein-geschlechtigen überging. Der frühere Menschenleib befruchtete mit aufgenommenen Stoffen sich selbst. Nun erhielt die eine Form des Menschenleibes, die weibliche, nur die Kraft, das Befruchtete auszureifen. Dies geschah so, daß in ihr die männliche Kraft die Fähigkeit der Zubereitung des Fruchtstoffes verlor. Es bleibt diese Kraft nur dem Äther- oder Lebensleib, welcher die Reifung zu bewirken hat. Der männlichen Form des Menschenleibes ging die Möglichkeit verloren, mit dem Fruchtstoff in sich etwas anzufangen. Das Weibliche blieb in ihr auf den Ätherleib beschränkt. So kommt es, daß in dem gegenwärtigen Menschen die Sache so steht, daß im Manne der Ätherleib weiblich, in der Frau aber männlich ist. – Die Erwerbung dieser Fähigkeiten fällt zeitlich mit der Ausbildung eines festen Knochengerüstes zusammen. [6]

Die Menschenseele baut sich den Körper (so), wie aus zwei Polen sich der Magnet aufbaut. Sie baut sich einen männlichen und einen weiblichen Teil, das eine Mal den einen Teil als physischen Leib, das andere Mal als Ätherleib. Daher wird in bezug auf diejenigen Leidenschaften, die gerade am Ätherleib hängen: Hingebung, Tapferkeit, Liebe, die Frau offenbar männliche Charaktereigenschaften zeigen können und der Mann manchmal recht weiblich erscheinen. Dagegen mit Bezug auf alle Charaktereigenschaften, die mehr am physischen Leib hängen, da wird sich im äußeren Leben die Konsequenz des Geschlechts ausleben. [7] Der Mann trägt vom 14. Lebensjahre ab die Frau ätherisiert in sich, die Frau trägt ätherisiert den Mann in sich. [8] Die Aufopferungsfähigkeit des Weibes zum Beispiel im Liebesdienste hängt zusammen mit der Männlichkeit ihres Ätherleibes, während der Ehrgeiz des Mannes erklärt wird, wenn wir die weibliche Natur seines Ätherleibes erkennen. Beim Manne geht der stärkere Einfluß auf den Ätherleib aus vom Monde und der stärkere Einfluß auf den physischen Leib von der Sonne. Bei der Frau dagegen ist es umgekehrt: der physische Leib wird beeinflußt von den Kräften des Mondes und der Ätherleib von denen der Sonne.

Aus der früheren Zweigeschlechtlichkeit hat sich im weiblichen Wesen die Tendenz erhalten, die Nachkommen ähnlich zu gestalten. Im männlichen Wesen wirkt der Einfluß anders; in ihm wirkt die Tendenz, die Verschiedenheit, die Individualisierung hervorzurufen, und dadurch, daß die männliche Kraft in die weibliche einfloß, wurde immer mehr Unähnlichkeit erzeugt. So tritt durch den männlichen Einfluß die Möglichkeit auf, daß die Individualität Platz greift. [9] Es wirkt im Menschen tatsächlich ein altes Weibliches als Gruppenseele und ein neues Männliches als individualisierendes Element.

Es wird dahin kommen, daß alle Rassen- und Stammeszusammenhänge wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener werden. [10] Das ist gerade der Sinn der Menschheitsentwickelung, daß die einzelnen Menschen immer individueller und individueller werden. [11] Durch die Lehre von der Reinkarnation erkennt man, daß dasjenige, was bei jeder neuen Wiederverkörperung zum Ausdruck kommt, nicht die (eigentliche) Persönlichkeit des jeweiligen Erdenlebens ist, sondern daß der Kausalkörper, die Entelechie (das, was durch die Inkarnationen geht), sich geschlechtslos aufbaut. [12]

Was stärker emotionell ist und im Leben zwischen Geburt und Tod mehr nach dem Inneren der Seele geht, das hat viel mehr Neigung, tiefer einzugreifen in die Organisation, sie viel intensiver zu imprägnieren. Und dadurch, daß die Frau solche Eindrücke aufnimmt, welche mit dem Psychismus, mit dem Emotionalismus zusammenhängen, nimmt sie in tiefere Seelengründe hinein auch die Erfahrungen des Lebens. Der Mann mag reichere Erfahrungen machen, auch wissenschaftlichere: so tief gehen bei ihm die Erfahrungen nicht in das Seelenleben hinein, wie es bei der Frau der Fall ist. Bei der Frau prägt sich die ganze Erfahrungswelt tief ein in die Seele. Dadurch haben die Erlebnisse eine stärkere Tendenz, in die Organisation hineinzuwirken, die Organisation in der Zukunft stärker zu umklammern. Und so nimmt ein Frauenleben die Tendenz auf, durch ihre Erlebnisse in einer Inkarnation tief in den Organismus hineinzugreifen und damit in der nächsten Inkarnation den Organismus selber zu gestalten. Ein tiefes Hineinarbeiten, ein tiefes Durcharbeiten des Organismus bedeutet nun aber: einen männlichen Organismus hervorbringen. Ein männlicher Organismus wird dadurch hervorgebracht, daß die Kräfte der Seele sich tiefer in das Materielle hineinprägen wollen. Was als Intellektualismus des Mannes zu bezeichnen ist, das kommt von seinem steiferen, verfestigteren Gehirn. Man könnte dabei von einem gewissen Grade von «Eingefrorenheit» des Gehirns sprechen. Dadurch aber wird der Mann veranlaßt, mehr die Äußerlichkeiten zu erfassen, weniger von denjenigen Erlebnissen aufzunehmen, die mit den Tiefen des Seelenlebens zusammenhängen. Und was er aufnimmt, das geht dann auch nicht tief. [13] Die Folge davon ist aber die, daß der Mensch aus einer solchen Inkarnation, wo er wenig hineinwirkt in die Seele, die Tentenz aufnimmt zwischen Geburt und Tod, in der nächsten Inkarnation weniger in die Organisation einzudringen. Es ist ja die Kraft dazu weniger aufgenommen worden; deshalb wirkt sie jetzt so, daß der Mensch weniger seine Leiblichkeit imprägniert. Daraus entsteht nun aber die Neigung, in der nächsten Inkarnation einen Frauenleib aufzubauen. Nur in seltenen Fällen wiederholt sich die gleiche geschlechtliche Inkarnation; sie kann sich höchstens 7 mal wiederholen. Die Regel jedoch ist die, daß jede männliche Organisation in der nächsten Inkarnation danach strebt, weiblich zu werden, und umgekehrt. [14]

Es gibt eine Möglichkeit, zu studieren das weibliche Geschlechtliche, wenn wir es in seiner Dependenz betrachten von den kosmisch-peripherischen, gestaltenden Kräften. Und es gibt eine Möglichkeit, das männliche Geschlechtliche zu betrachten bis in seine einzelnen Formen hinein, wenn wir es betrachten in seiner Abhängigkeit von den tellurischen (irdischen) Auflösungskräften. [15]

Das weibliche Geschlecht war früher (da) und (ist) in absteigender Linie, während das männliche Geschlecht in aufsteigender Linie ist und die Samenkraft in sich sucht, die das Weib in sich hat. [16] Die ganze befruchtende und fruchtbringende Kraft, die einen neuen Menschen hervorbringt, war früher in einem Geschlecht vereinigt; es ist das Weibliche. Daher wird in der ältesten griechischen Mythologie Zeus, der als Vater der Menschheit verehrt wurde, mit einer Frauenbüste dargestellt. Zeus als übermenschliches Wesen war dem weiblichen Geschlecht näher. Die hervorbringende Kraft war vorhanden in dem eingeschlechtlichen Menschen, der in seiner physischen äußeren Form sich eben mehr der Form des Weibes näherte. In diesem eingeschlechtlichen Menschen war das Befruchtende die Weisheit, das Geistige selbst. [17]

Wenn der Mensch die Kraft erlangt haben wird, daß sein Kehlkopf so weit sein wird, daß sein Wort schaffend sein wird, so daß er durch das Wort seinesgleichen hervorbringen wird, dann wird die ganze produktive Kraft übergehen auf das männliche Geschlecht. Das Mutieren (der Stimme beim jungen Mann) ist nichts anderes als der Ausdruck der alten Zusammengehörigkeit von Sprachorgan und Geschlechtsorgan. Der männliche Kehlkopf ist es aber, der sich zum Zukunftsorgan bildet. [18]

Ein wahrhaftiges Bild des Geistigen gibt nur der Kopf mit den Gliedmaßen. Alles andere entspricht nicht dem Geistigen; so auch nicht das Männliche und Weibliche am Menschen. Nur der Kopf und die Gliedmaßen erkennt der Geistesforscher als wahres Abbild des Geistigen an, alles andere ist verzeichnet. Das rührt davon her, daß die Trennung in Mann und Weib sich zurückführen läßt auf die lemurische Zeit, in der eine einzige Gestalt alles das in sich vereinigte, was wir jetzt getrennt vor uns sehen. In der Form des neutralen Geschlechtes war er noch eine dem Geiste näherstehende Gestalt. Die weibliche Gestalt behielt diese geistigere Form bei, stieg nicht so tief ins Materielle hinunter, als es eigentlich der normalen Entwickelung entsprochen hätte. Gerade umgekehrt ist es beim Manne. Er prägt eine äußere Gestalt aus, die materieller ist als die Schattengestalt hinter ihm, die dem normalen Mittel entspricht. Die weibliche Gestalt führt uns zurück in eine frühere Erdendaseinsstufe, in die alte Mondenzeit. Die männliche Gestalt führt uns über die Erdenzeit hinaus in das Jupiterdasein, aber in einer dafür noch nicht lebensfähigen Form. Der Mond stellt jetzt, völlig verdorrt und vereist, dasjenige dar, was erst später als Jupiterdasein wieder lebensfähig sein wird, jetzt aber wie zum Tode verurteilt ist. [19]

Zitate:

[1]  GA 11, Seite 75   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[2]  GA 11, Seite 76ff   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[3]  GA 56, Seite 94   (Ausgabe 1965, 372 Seiten)
[4]  GA 56, Seite 98   (Ausgabe 1965, 372 Seiten)
[5]  GA 94, Seite 38   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[6]  GA 89, Seite 62   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[7]  GA 54, Seite 127f   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[8]  GA 307, Seite 80   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[9]  GA 99, Seite 124f   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[10]  GA 99, Seite 127   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[11]  GA 100, Seite 150   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[12]  GA 93, Seite 239   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[13]  GA 120, Seite 178f   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[14]  GA 120, Seite 181   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[15]  GA 312, Seite 206   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[16]  GA 93, Seite 226   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[17]  GA 93, Seite 231   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[18]  GA 93, Seite 223f   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[19]  GA 118, Seite 135f   (Ausgabe 1977, 234 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 56:  Die Erkenntnis der Seele und des Geistes (1907/1908)
GA 89:  Bewußtsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie (1903-1906)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende. als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 118:  Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (1910)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 307:  Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung (1923)
GA 312:  Geisteswissenschaft und Medizin (1920)