Genie

Große Naturen haben das an sich, daß sie die verschiedensten Wandlungen durchmachen müssen, weil ihr Innerstes aus tiefen Schachten herausgeholt werden muß. In wem viel liegt, wer mit Anwartschaft auf Genie zur Welt kommt, wird schwer sich durchfinden, sich durch mannigfaltige Anfangsstadien durcharbeiten müssen, wie es uns als Analogie die embryonale Entwickelung zeigt (siehe: ontogenetisches Grundgesetz). [1]

Das Genie bringt sich der Mensch durch seine Geburt in dieses Leben herein. Es ist immer das Ergebnis des vorgeburtlichen Lebens. Und da begreiflicherweise das vorgeburtliche Leben besonders in der Kindheit zum Ausdrucke kommt – später paßt sich der Mensch dem Leben zwischen Geburt und Tod an, aber in der Kindheit kommt alles das heraus, was der Mensch vor der Geburt erlebt hat –, deshalb zeigt sich beim Genie das Kindliche während des ganzen Lebens. Es ist geradezu die Eigenschaft des Genies, das Kindhafte durch das ganze Leben zu bewahren. Und es gehört sogar zum Genie, bis in die spätesten Tage sich die Jugendlichkeit, Kindlichkeit zu erhalten, weil alles Genie zusammenhängt mit dem vorgeburtlichen Leben. Aber nicht nur das Genie, alle Begabungen, alles dasjenige, wodurch ein Mensch eine Individualität ist, hängt mit dem vorgeburtlichen Leben zusammen. [2]

Dasjenige im menschlichen physischen Leib, das man das Astral-Physische nennen könnte, das wirkt während des Schlafens in der Nacht mit Kräften, die sehr ähnlich sind den Kräften des Merkur, den Merkurialkräften, den Kräften, die das Merkur (siehe: Quecksilber) flüssig machen und so weiter. Dagegen was im physischen Leib zugeteilt ist dem Ich, das wirkt während des Schlafens wie Salz. Das Merkurialische ist in Wirklichkeit ein Belebendes –, in das fährt beim Aufwachen hinein das Ich und der astralische Leib, welche während des Nachtschlafes in der geistigen Welt gewesen sind. [3]

Das Genie bringt aus dem Schlafe das mit, womit es seinen Merkurialbestandteil und seinen Salzbestandteil durchdringt, und darauf beruht sogar die Ausbildung des Genies. [4]

Man darf nicht verkennen, daß in den großen Genies, auf denen der Fortgang der Kultur beruht, nicht eine besonders mystische Gabe vorhanden ist, sondern nur eine Steigerung derjenigen geistigen Fähigkeiten, die in jedem Neu-Ersinnen auftritt. Genie ist in diesem Sinne eine allgemein-menschliche Eigenschaft. Bis zu einem gewissen Grade hat jeder Genie. Die geniale, produktive Fähigkeit der Seele steht der bloß kombinierenden Verstandesbegabung gegenüber. Diese bringt nichts Neues hervor, sondern weist den Gedanken, die aus dem Genie stammen, nur die rechten Bahnen, gibt ihnen den Platz im Gedankensystem, den sie einzunehmen haben. [5]

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Genies, daß es in großen Zügen den Plan der Kulturentwickelung entwirft, dessen Ausbau in den Einzelheiten der nachfolgenden Generation obliegt. Es müssen oft lange Zeiträume vergehen, ehe die Welt auf Umwegen zum vollen Verständnisse dessen gelangt, was ein Einzelner auf der Höhe seiner Geisteskultur geschaffen. Und immer, wenn ein Same, den ein führender Genius der Bildung eingepflanzt hat, reif ist, als Frucht bei der Nachwelt aufzugehen, dann kehrt die letztere zu jenem Führer zurück, um sich wieder einmal mit ihm auseinanderzusetzen. [6] Diejenigen Genies, die die fünfte Kulturperiode hat, werden die letzten Genies unserer Erdentwickelung sein. Genies wird es in der Zukunft nicht mehr geben. Jene Genialität, die eine Naturgabe ist, die hört auf, dafür muß die erarbeitete Genialität eintreten, jene Genialität, welche mit einer lebendigen Verbindung des Menschen mit der sich offenbarenden Geistigkeit von außen zusammenhängen muß. [7]

Dasjenige, was das Genie in der Zukunft ersetzen wird, wird darinnen bestehen, daß gewisse Menschen sich dazu finden werden, die in einer anderen Weise als es in alten Zeiten der Fall war, Umgang haben werden mit der geistigen Welt. Und weil sie das haben werden, werden sie aus der geistigen Welt die Impulse bekommen, die sich dann in dem äußern, was in der Zukunft äquivalent ist mit demjenigen, was in der Vergangenheit von Genies geschaffen worden ist. [8]

Zitate:

[1]  GA 51, Seite 228   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[2]  GA 191, Seite 188   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[3]  GA 177, Seite 28f   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)
[4]  GA 177, Seite 31   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)
[5]  GA 30, Seite 423   (Ausgabe 1961, 629 Seiten)
[6]  GA 30, Seite 302   (Ausgabe 1961, 629 Seiten)
[7]  GA 176, Seite 67   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[8]  GA 176, Seite 69   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)

Quellen:

GA 30:  Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde (1884-1901)
GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 177:  Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis (1917)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)