Geistesschau

Jederzeit sieht der Mensch das Geistige durch die Brille seiner Erfahrung. Die Sinne, die wir für das Geistige ausgebildet haben, hängen von dem Leben hier auf der Erde ab. Hier reifen wir aus für das Jenseits, hier bereiten wir uns die geistigen Augen und Ohren für das Jenseits. [1]

Man stellt sich oftmals das Hineinschauen in die geistigen Welten als etwas Beseligendes vor. Gewisse Gebiete des höheren Daseins haben etwas Beseligendes, aber namentlich, wenn man in höhere Gebiete der Geheimnisse dringt, dann ist vieles, vieles an den Beobachtungen hängend, das mit einem gewissen Grauen auch erfüllen kann. Insbesondere an den karmischen Zusammenhängen der Menschen ist für die seherische Beobachtung – wenn diese gewissenhaft vorgenommen wird, wenn alles, was zu sagen ist, wirklich herausgesucht wird aus den höheren Welten, wenn nicht Spintisiererei und andere Dinge hineinspielen –, es ist etwas daran, was den Seher in der allerintensivsten Weise hinnimmt, was in gewisser Weise starke Anforderungen an seine Kräfte stellt. – Dann aber kommen auch diejenigen Dinge, die uns wiederum erkennen lassen – selbst wenn die grauenerregendsten, die furchtbarsten Dinge in Betracht kämen –, wie weisheitsvoll die ganze Führung ist. [2] Wir erfahren, daß da draußen eine geistige Welt ist und daß die Abbilder dieser geistigen Welt in unseren eigenen Organen vorhanden sind. Wir lernen jetzt den Menschen erst in seiner Gliederung kennen, wenn wir die geistige Welt kennenlernen. Und dann hört auch das, was man gewöhnlich Stoff nennt, auf, dieselbe Bedeutung zu haben, die es angenommen hat in der neueren Zivilisation. Dann sehen wir, wie in der Tat in dem, was in uns organisch arbeitet, ein Abbild dessen vorhanden ist, was wir waren, bevor wir zum Erdendasein heruntergestiegen sind. Wir wissen auf der anderen Seite, daß das, was in materiellen Formen in uns arbeitet, eben das umgewandelte Nachbild von Geistigem ist. [3]

Wenn man so stark geworden ist, daß man sich außerhalb seines Leibes in eine geistige Welt versetzt fühlt, dann ist der nächste Schritt, daß man anfängt, in jener Welt etwas wahrzunehmen; da man aber zu gleicher Zeit auch in sein Inneres eindringt, erlebt man auch die Gefahren der Täuschung umso stärker. In dem Moment werden wir von den Kräften der Versuchung ergriffen und zaubern uns Bilder vor, die wir dann für Realitäten halten; aber gerade die schönsten, die edelsten Visionen sind die tiefsten Illusionen. Erst lange, nachdem man die Kraft des Aufsteigens in die geistige Welt erlangt hat, ist es einem möglich, Wirklichkeit von Täuschung zu unterscheiden. Nur der tiefste Ernst, mit dem man sich Theosophie (überhaupt die ganze Geisteswissenschaft) aneignet, bringt diese Möglichkeit. Wenn wir in unserem Wachbewußtsein immer die Begriffe, die die Theosophie uns gibt, in unserer Seele tragen, dann schaffen wir hier die Realität für die geistige Welt und werden, wenn wir dahin gelangen, auch erkennen können was wir schauen. Im Anfang soll man sich gegen die Visionen wehren, sie nicht zulassen und sie nicht, wie es gewöhnlich geschieht, weiter ausspinnen und unsere Phantasie darauf anwenden. Es kommt schon, wenn man im rechten Sinne wartet, der Moment, wo man weiß, ob es sich um Reales handelt oder nicht. [4]

Zitate:

[1]  GA 97, Seite 31   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[2]  GA 140, Seite 263   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)
[3]  GA 83, Seite 119f   (Ausgabe 1981, 388 Seiten)
[4]  GA 266/2, Seite 62   (Ausgabe 0, 0 Seiten)

Quellen:

GA 83:  Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie (1922)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 266/2:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band II (1910-1912)