Hellsehen jedes Menschen beim Liebesverhältnis

Man wird sehr leicht, wenn man von dem Aufsteigen des Menschen zu übersinnlichem Erkennen, spricht oder sprechen hört, die Empfindung haben: Das ist etwas sehr Entlegenes, das ist etwas dem gewöhnlichen Erdenleben ganz Fremdes. Ganz so ist es nicht. Wenn man mit dem Ausdruck keinen Mißbrauch treibt, so kann man sagen: Der Besitzer übersinnlicher Erkenntnis ist eben ein Seher. Dann kann man die Meinung haben, er hält sich dafür, daß er etwas, was sonst alle Menschen nicht haben, erwirbt. Das ist aber nicht der Fall. Auf einem Gebiete befindet sich immer jeder Mensch – nur daß man es im gewöhnlichen Leben nicht weiß, daß man sogar, wenn es behauptet wird, nicht gleich einen Sinn damit verbinden kann –, befindet sich immer jeder Mensch in der Seelenverfassung, die man sich für die anderen Gebiete der Geisteswissenschaft erst mühselig aneignen muß, damit man zur übersinnlichen Erkenntnis komme. Auf einem Gebiete befindet man sich immer in dieser Seelenverfassung, sonst würde man auf diesem einen Gebiete eben einfach blind sein. Und dieses eine Gebiet ist das, wenn man eben liebend von Mensch zu Mensch in ein Verhältnis tritt. Den anderen Menschen, zu dem man liebend in ein Verhältnis tritt, den betrachtet man von demselben Seelengesichtspunkte aus – aber eben nur den Menschen –, von dem aus man zu schauen hat, wenn man übersinnliche Erkenntnisse haben will. Nur muß man die Fähigkeit der Seele erst entwickeln, um in bezug auf anderes dieselbe Lage in seiner Seele herbeizuführen, die einfach durch Instinkt, durch das gewöhnliche Leben herbeigeführt wird, wenn man liebend einem anderen Menschen verständnisvoll, mit Interesse gegenübersteht und sich mit Interesse in seine Seelenart vertieft. In diesem Falle, wo man einem anderen Menschen mit innerem Anteil, mit tiefem Verständnis, mit wahrhaftigem Interesse entgegentritt, in dem Augenblicke wird man – wenn ich so sagen darf – im gewöhnlichen Leben hellsichtig. [1]

Zitate:

[1]  GA 72, Seite 393f   (Ausgabe 1990, 438 Seiten)

Quellen:

GA 72:  Freiheit – Unsterblichkeit – Soziales Leben. Vom Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblichen des Menschen (1917-1918)