Guru

In den alten Zeiten war es strenge Regel, und es ist heute noch für viele Initiationen, die in der Welt sind, strenge Regel, daß der, der den (geistigen Pfad) sucht, eine Art von Führer hat, den man in gewissen Kreisen eben den geistigen Führer, den Guru nennt. Was ist die Aufgabe dieses Guru? Im Verlaufe der inneren Entwickelung kommt man vor gewisse Gefahren, vor denen man gewarnt werden soll. Zunächst ist die Aufgabe gewesen in denjenigen Initiationen, die noch aus den alten Zeiten sich herübergeerbt haben, daß der Guru ein Warner ist. Das kann er auch heute noch sein, wenn er einfach die Person ist, die man als eine Art von Lehrer aufsucht wie in der äußeren Wissenschaft und zu der man Vertrauen hat. Aber es ist außerordentlich naheliegend, daß das, was der alte Guru sein mußte, der neue sein will, was er aber nimmer sein darf und immer weniger wird sein dürfen, je mehr sich die Initiation dem fortschreitenden Entwickelungsprozeß der Menschheit anpassen wird. Im Grunde genommen fing die Initiation überall so an, (daß) dem Menschen die einzelnen Regeln gegeben wurden: jetzt sollst du dich auf das, dann auf jenes konzentrieren, jetzt sollst du diese, dann jene Übung machen; dann wurde unter strenger Führerschaft der Zustand herbeigeführt, in welchem die Welt der Imagination eintrat. Während nun – es liegt das in der Natur des modernen Menschen – der moderne Mensch dahin kommen muß, durch seinen eigenen Willensentschluß das in sich zu haben: die Imagination in die Inspiration hinaufzuführen, das wurde von dem alten Guru als Aufgabe übernommen, den Schüler aus der Imagination in die Inspiration hinaufzuführen durch gewisse Einflüsse, denen dann der Mensch eben leichter zugänglich ist, wenn er es bis zu dieser Stufe der Initiation gebracht hat. Es wird gleichsam von dem Guru in den Schüler hinüber verpflanzt etwas, wodurch Ordnung hineinkommt in sein imaginatives, in sein visionäres Leben. Damit aber hat der Guru den Schüler vollständig in der Hand; dadurch ist der Schüler in gewisser Beziehung ein Werkzeug in den Händen des Guru. Und Sie verstehen, daß dadurch verknüpft war mit allen alten Initiationen, von denen im Grunde genommen auch alle religiösen Bekenntnisse ausgegangen sind, die strenge Forderung, daß der Guru, daß der Initiator über jede Unmoralität, über jede Möglichkeit, einen unrichtigen Einfluß auf den Schüler auszuüben, erhaben war, wenn er seinen Einfluß nur dahin wandte, die von ihm selbst gewonnenen Erkenntnis-Bilder der höheren Welt auf den Schüler zu übertragen, so daß er dem Schüler den Weg erleichterte. Die Gurus, die ihre Schüler so um sich versammelten wie eben Religions- oder Sektenstifter, werden immer mehr und mehr aus dem Menschheitsentwickelungsprozeß verschwinden; an ihre Stelle werden für diejenigen, die die Initiation suchen, die Menschen des Vertrauens treten, des Vertrauens, das man gewinnt, wie man auch das Vertrauen zu einem anderen Lehrer gewinnt. Aber es muß sozusagen der selbstgewählte Lehrer, der nicht von irgendeiner Seite her festgesetzte Guru sein. Das wird gerade auf dem Gebiet, das hier gemeint ist, immer eine gefährliche Klippe sein, wenn geistige Strömungen, die Okkultismus in die Welt bringen wollen, vor allen Dingen sich auf große Lehrer berufen, auf diejenigen, die von außen her den Menschen aufgedrängt werden sollen, die nicht aus dem selbstverständlichen Vertrauen, aus innerem Vertrauen, das aus der Begegnung mit dem Lehrer hervorgeht und das sich im Schüler selbst bildet, hervorgeht; (ein solcher Lehrer muß gar nicht unbedingt eine lebende Person sein), (siehe: Guru – Verehrung und Erkenntnis). [1] Auf diesem Gebiete besteht einfach die Gefahr, daß sich unmittelbar neben dem gewissenhaften Initiierten, der auf gewissenhafte Weise seinen Weg gesucht hat in die übersinnlichen Welten und die Ergebnisse der Welt vermittelt, sich hinstellt der Scharlatan. Scharlatanerie ist das, was sich so leicht hinstellen kann neben die gewissenhaften, vom Wahrheitsgeist diktierten Ergebnisse des Okkultismus oder der Initiation. [2]

Eine Person darf im Abendlande zu der Stufe psychischer Entwickelung (der Geistesschau), nur geführt werden, wenn bei ihm der Teil der Führung, die nicht mehr von einem Guru ausgehen kann, durch eine bis zu einem gewissen Grade gekommene mentale Schulung ersetzt wird. Ich meine damit nicht eine bloß intellektuell-philosophische Schulung, sondern die Entwickelung jener Bewußtseins-stufe, welche in gedanklich innerem Schauen besteht. Das fordert einfach die Stufe der Gehirnentwickelung, auf welcher der Abendländer stehen muß. Dies alles ist deswegen der Fall, weil der Gedanke selbst für alle Plane derselbe ist. Wo auch der Gedanke ausgebildet wird, ob auf dem physischen oder auf einem höheren Plane: er wird für alles dann ein sicherer Führer sein, wenn er sinnlichkeitsfrei und ein in Selbst-Erkenntnis erfaßter ist. Wird er zuerst – nach der abendländischen Gehirnanlage – auf dem physischen Plane entwickelt, dann bleibt er der sicher leitende Faden durch alle Stufen der physischen und der überphysischen Erkenntnis. Fehlt er, dann wandelt der Abendländer steuerlos, gleich ob er sich auf dem physischen oder einem höheren Plane bewegt. Und bei der im gegenwärtigen Zeitpunkt so nahen Verwandtschaft aller höheren Menschenkräfte mit den Kräften, die auf niederer Stufe der Sexualsphäre angehören, kann in jedem Augenblicke eine Entgleisung stattfinden. (Sexualmagie) ist etwas, welches gegenwärtig in vielen okkulten Gruppen geübt wird, die mehr oder weniger dem linken Pfade zustreben (siehe: Magie schwarze). [3]

Zitate:

[1]  GA 136, Seite 233ff   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[2]  GA 136, Seite 237f   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[3]  GA 264, Seite 280f   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)

Quellen:

GA 136:  Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen (1912)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)