Griechisch-lateinische Kulturepoche

Die griechisch-lateinische Epoche hat die Aufgabe zu lösen, die sich vorzugsweise bezieht auf das, was man zusammenfassen kann mit den Worten Geburt und Tod im Weltenall. So lebensintensiv, wie die 5. nachatlantische Zeit (unsere Zeit) das Problem des Bösen wird lösen müssen, so lebensintensiv hatte zu lösen die Frage nach Geburt und Tod die atlantische Zeit. In der atlantischen Zeit selber traten die Erscheinungen der Geburt und des Todes in viel anschaulicherer, viel unmittelbarerer, viel elementarerer Art an die Menschen heran als jetzt, wo sich dasjenige, was sich hinter Geburt und Tod verbirgt, eben auch für das menschliche Anschauen und Empfinden mehr verbirgt. Und die griechisch-lateinische Zeit war im Grunde genommen nur eine abgeschwächte Wiederholung desjenigen, was die Atlantier zu erleben hatten mit Bezug auf Geburt und Tod. Daher war das, was in dieser griechisch-lateinischen Zeit erlebt wurde, nicht so intensiv, wie intensiv werden wird das Ringen der 5. nachatlantischen Epoche, die 1413 begonnen, mit all den Mächten des Bösen, mit all dem, was aus dem Bösen herausquillt, und wovon sich der Mensch eigentlich zu befreien hat. [1]

Von all den wichtigen Dingen, die da im dritten (ägyptisch-chaldäischen) Zeitraum geschahen, haben wir eine Art Wiederholung in dem vierten, im griechischen-lateinischen Zeitraum. Es ist fast so, wie wenn sozusagen das, was durch höhere Gesetze für den vorhergehenden Zeitraum erklärlich ist, durch Gesetze der physischen Welt erklärlich wird für den folgenden; wie wenn es heruntergestiegen wäre, sich um eine Stufe vergröbert hätte, physischer geworden wäre: eine Art von Spiegelung in der physischen Welt zeigt sich für uns für große Ereignisse der vorhergehenden Zeiträume. [2]

Es gab Orakelstätten, welche den mannigfachen atlantischen Orakeln nachlebten. Es gab Menschen, welche als natürliche Anlage Erbstücke des alten Hellsehens in sich hatten, und solche, welche sie verhältnismäßig leicht durch Schulung erlangen konnten. An besonderen Orten wurden nicht nur die Überlieferungen der alten Eingeweihten bewahrt, sondern es erstanden an ihnen würdige Nachfolger derselben, welche Schüler heranzogen, die sich zu hohen Stufen geistigen Schauens erheben konnten. Dabei hatten diese Völker den Trieb in sich, innerhalb der sinnlichen Welt ein Gebiet zu schaffen, welches in dem Physischen das Geistige in vollkommener Form ausdrückt. Neben vielem andern ist die griechische Kunst eine Folge dieses Triebes. Der griechische Tempel ist das «Haus des Geistes». Man nimmt in seinen Formen wahr, was sonst nur das geistige Auge des übersinnlich Schauenden erkennt. Ein Zeus- oder Jupiter-Tempel ist so gestaltet, daß er für das sinnliche Auge eine würdige Umhüllung dessen darstellt, was der Hüter der Zeus- oder Jupiter-Einweihung mit geistigem Auge schaute. Und so ist es mit aller griechischen Kunst. Auf geheimnisvollen Wegen flossen die Weistümer der Eingeweihten in die Dichter, Künstler und Denker. In den Weltanschauungsgebäuden der alten griechischen Philosophen findet man die Geheimnisse der Eingeweihten in Form von Begriffen und Ideen wieder. Und es strömten die Einflüsse des geistigen Lebens, die Geheimnisse der asiatischen und afrikanischen (ägyptischen) Einweihungstätten diesen Völkern und ihren Führern zu. Die großen indischen Lehrer (siehe: Rishis), die Genossen Zarathustras, die Anhänger des Hermes hatten ihre Schüler herangezogen. Diese oder deren Nachfolger begründeten nun Einweihungsstätten, in denen die alten Weistümer in neuer Form wieder auflebten. Es sind die Mysterien des Altertums. Man bereitete da die Schüler vor, um sie dann in jene Bewußtseinszustände zu bringen, durch welche sie das Schauen in die geistige Welt erlangen konnten. In der griechischen Welt entstanden in den orphischen und eleusinischen Mysterien wichtige Einweihungsstätten. In der Weisheitsschule des Pythagoras wirkten die großen Weisheitslehren und Weisheitsmethoden der Vorzeit nach. Auf großen Reisen war Pythagoras in die Geheimnisse der verschiedensten Mysterien eingeweiht worden. [3] Man kann gegenwärtig innerhalb der Geisteswissenschaft das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt so beschreiben, wie es ist, wenn der ahrimanische Einfluß bis zu einem gewissen Grade überwunden ist. Im Erdenleben führt die Gewalt Ahrimans dazu, das sinnlich-physische Dasein als das einzige anzusehen und sich dadurch jeden Ausblick auf eine geistige Welt zu versperren. In der geistigen Welt bringt diese Gewalt den Menschen zur völligen Vereinsamung, zur Hinlenkung aller Interessen nur auf sich. Einen Höhepunkt erreichte die Verschleierung der geistigen Welt nach dem Tode für jene Seelen, welche aus einem Leibe der griechisch-lateinischen Kultur in den leibfreien Zustand übergingen. Sie hatten im Erdenleben die Pflege des sinnlich-physischen Daseins zur Blüte gebracht. Und damit hatten sie sich zu einem Schattendasein nach dem Tode verurteilt. Und es ist nicht bloßes Gerede, sondern die Empfindung der Wahrheit, wenn der dem Sinnenleben zugewandte Held dieser Zeit (Achilles) sagt: «Lieber ein Bettler auf der Erde, als ein König im Reich der Schatten.» Noch ausgeprägter war dies alles bei jenen asiatischen Völkern, die auch in ihrer Verehrung und Anbetung den Blick nur auf die sinnlichen Abbilder statt auf die geistigen Urbilder gerichtet hatten. Ein großer Teil der Menschheit war zur Zeit der griechisch-lateinischen Kulturperiode in der geschilderten Lage. Man sieht, wie die Mission des Menschen in der nachatlantischen Zeit, welche in der Eroberung der physisch-sinnlichen Welt bestand, notwendig zur Entfremdung von der geistigen Welt führen mußte. So hängt das Große auf der einen Seite mit dem Verfall auf der anderen ganz notwendig zusammen. [4]

Im griechisch-lateinischen Zeitalter tritt vor die Menschen schroff hin der Gegensatz des Außen und des Innen, des Naturdaseins und des menschlichen Daseins. Da beginnt der Mensch sich im Gegensatz zu fühlen gegen die Natur. [5] Paßt das, was im Geistigen gewonnen ist, auch wirklich auf die physischen Dinge? – Diese Frage konnte sich der Mensch erst im vierten Kulturzeitraum vorlegen, nachdem er eine Zeitlang in Unschuld das übersinnliche Wissen angewendet hatte auf die physischen Erfahrungen und physischen Beobachtungen. So können Sie zum Beispiel sehen, wie Plato noch einen ganz lebendigen Bezug hat auf die alte Welt und noch in der alten Form die Begriffe anwendet auf die physische Welt. Sein Schüler Aristoteles ist dann der, welcher fragt: Darf man denn das auch? – Daher ist er der Begründer der Logik. [6]

An die Stelle des alten dämmerhaften übersinnlichen Bewußtseins trat das verstandesmäßige Nachdenken über die Dinge. Die Menschen wurden immer mehr entfernt von einer unmittelbaren träumerischen Wahrnehmung der geistig-seelischen Welt und immer mehr darauf angewiesen, durch ihren Verstand und ihr Gefühl sich ein Bild von derselben zu formen. Nur solche Menschen, welche sich wie ein Erbgut die alte Seelenverfassung bewahrt hatten, konnten die geistige Welt noch unmittelbar ins Bewußtsein aufnehmen. Es gab aber auch solche Menschen, welche in ganz bewußter Art anfingen, zu den erlangten Verstandes- und Gefühlskräften andere höhere hinzuzuentwickeln, welche es ihnen wieder möglich machten, in die geistig-seelische Welt einzudringen.

Sie mußten damit beginnen, dies auf andere Art zu tun, als es bei den Schülern der alten Eingeweihten geschah. Diese hatten die erst im vierten Zeitraum entwickelten Seelenfähigkeiten noch nicht zu berücksichtigen. Es begann im vierten Zeitraum in den ersten Anfängen diejenige Art der Geistesschulung (siehe: Schulung), welche in diesem Buche als die gegenwärtige beschrieben worden ist. Ihre eigentliche Ausbildung konnte sie erst im fünften Zeitabschnitt erfahren. Menschen, welche in dieser Weise den Aufstieg in die übersinnlichen Welten suchten, konnten durch eigene Imagination, Inspiration, Intuition etwas von höheren Gebieten des Daseins erfahren. Jene Menschen, welche bei den entwickelten Verstandes- und Gefühlsfähigkeiten verblieben, konnten von dem, was das ältere Hellsehen wußte, nur durch Überlieferung erfahren, die sich von Geschlecht zu Geschlecht mündlich oder schriftlich fortpflanzte. [7]

Das ist gerade das Wesentliche des vierten Zeitraumes, daß durch das Abgeschlossensein der Seele von einem unmittelbaren Verkehr mit der seelisch-geistigen Welt der Mensch gestärkt und gekräftigt wurde in den Verstandes- und Gefühlskräften. Als Ersatz für diese Abgeschlossenheit waren dann die gewaltigen Überlieferungen vorhanden von den uralten Weistümern, namentlich aber von dem Christus-Ereignis, welche durch die Kraft ihres Inhaltes den Seelen ein vertrauendes Wissen gaben von den höheren Welten. Nun waren aber immer auch Menschen vorhanden, welche die höheren Erkenntniskräfte zu den Verstandes- und Gefühlsfähigkeiten hinzuentwickelten. Ihnen oblag es, die Tatsachen der höheren Welt und namentlich das Geheimnis des Christus-Ereignisses durch ein unmittelbares übersinnliches Wissen zu erfahren. Von ihnen aus floß in die Seelen der anderen Menschen immer so viel hinüber, als diesen Seelen begreiflich und gut war.

Es gab fast immer – wenn man von einer kurzen Ausnahmezeit im 13. Jahrhundert absieht – auch solche Menschen, welche durch Imagination, Inspiration, Intuition sich zu den höheren Welten erheben konnten. Diese Menschen sind die nachchristlichen Nachfolger der alten Eingeweihten, der Leiter und Mitglieder des Mysterienwissens. Sie hatten die Aufgabe, durch ihre eigenen Fähigkeiten dasjenige wiederzuerkennen, was man durch das alte Mysterien-Erkennen hatte ergreifen können; und zu diesem hatten sie noch hinzuzufügen die Erkenntnis von dem Wesen des Christus-Ereignisses. So entstand bei diesen neuen Eingeweihten eine Erkenntnis, welche alles umfaßte, was Gegenstand der alten Einweihung war; aber im Mittelpunkte dieser Erkenntnis strahlte das höhere Wissen von den Geheimnissen des Christus-Ereignisses. Solche Erkenntnis konnte nur in einem geringen Grade einfließen in das allgemeine Leben, während die Menschenseelen im vierten Zeitraum die Verstandes- und Gefühlsfähigkeiten festigen sollten. Es war daher in diesem Zeitraum ein gar sehr «verborgenes Wissen». [8]

Die griechisch-lateinische Epoche wird keine Wiederholung haben, sie steht in der Mitte (die anderen Epochen sind gewissermaßen jeweils spiegelbildlich). Das bedeutet, daß der Mensch diese Periode nur einmal durchmachen muß. Nicht, daß er sich nur einmal verkörpert im vierten Zeitraum, sondern daß da eine Anzahl von Inkarnationen liegen, die keinen anderen ähnlich sehen. Ein Absteigen und ein Aufsteigen macht so der Mensch durch. So machen auch die großen Lehrer der Menschheit ihre Entwickelung durch einen Abstieg und einen Aufstieg, und sie sind zu den einen Zeiten etwas durchaus anderes als zu anderen Zeiten. [9] (Siehe auch: Mysterien).

Zitate:

[1]  GA 273, Seite 94f   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[2]  GA 126, Seite 16   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[3]  GA 13, Seite 285f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[4]  GA 13, Seite 287ff   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[5]  GA 194, Seite 106   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[6]  GA 124, Seite 58f   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[7]  GA 13, Seite 402ff   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[8]  GA 13, Seite 404ff   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[9]  GA 116, Seite 17   (Ausgabe 1982, 174 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 116:  Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins (1909/1910)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)