Geheimwissenschaft

Geheimwissenschaft ist Wissenschaft von dem, was sich insoferne im «Geheimen» abspielt, als es nicht draußen in der Natur wahrgenommen wird, sondern da, wohin die Seele sich orientiert, wenn sie ihr Inneres nach dem Geiste richtet. «Geheimwissenschaft» ist Gegensatz von «Naturwissenschaft». [1] Sie will über Nichtsinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht. Sie hält von dem naturwissenschaftlichen Verfahren die seelische Verfassung innerhalb dieses Verfahrens fest, also gerade das, durch welches Naturerkenntnis Wissenschaft erst wird. Sie darf sich deshalb als Wissenschaft bezeichnen. Nicht in dem lebt das Seelische, was der Mensch an der Natur erkennt, sondern in dem Vorgang des Erkennens. Was sie in dieser Betätigung lebensvoll sich erarbeitet, das ist noch etwas anderes als das Wissen über die Natur selbst. Das ist an der Naturerkenntnis erfahrene Selbstentwickelung. Den Gewinn dieser Selbstentwickelung will die Geheimwissenschaft betätigen auf Gebieten, die über die bloße Natur hinaus liegen. Der Geheimwissenschafter weiß, daß er ohne die Strenge der Vorstellungsart, die in der Naturwissenschaft waltet, keine Wissenschaft begründen kann. Er weiß aber auch, daß, wenn diese Strenge durch ein echtes Eindringen in den Geist des naturwissenschaftlichen Denkens erworben ist, sie festgehalten werden kann durch die Kraft der Seele für andere Gebiete. [2]

Sie heißt Geheimwissenschaft, nicht weil sie etwas verbirgt, sondern weil ihre Lehren im Innersten gefunden werden müssen. Sie ist Geheimwissenschaft genau so, wie die Mathematik Geheimwissenschaft ist. [3] Die mathematische Wahrheit ist etwas, was der Mensch niemals durch die äußeren Sinne finden kann. Sie können die drei Winkel eines Dreiecks noch so viel messen, niemals können Sie die unerschütterliche Wahrheit finden, daß diese drei Winkel zusammen 180 Grad sind. Das müssen Sie im Inneren erkennen. So ist es mit allen geometrischen und mathematischen Wahrheiten. In den alten Zeiten hießen die Anhänger der Geheimwissenschaft, die sich Gnostiker nannten, diese Geheimwissenschaft Mathesis; nicht um damit zu sagen, daß sie eine Mathematik sei, sondern weil diese Geheimwissenschaft den Charakter der mathematischen Wahrheiten hat. [4]

Wir leben heute in einer einseitigen Anschauung von der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeit. Die geistige Welt kann man höchstens durch die religiöse Tradition noch festhalten. Will man zu der wirklichen geistigen Welt aufsteigen, dann muß man einen inneren Entwickelungsgang durchmachen durch Imagination, Inspiration, Intuition. Man muß also durch die Initiationswissenschaft geführt werden von der gesetzmäßigen Durchdringung, oder wenigstens von dem Glauben an die gesetzmäßige Durchdringung des naturalistischen Daseins zu der Erfassung des Geistigen. Alle Initiationswissenschaft muß heute darauf gehen, den Menschen von der ihm heute selbstverständlichen, natürlichen Erfassung, des Kosmos hinzuführen zu der spirituellen Erfassung des Kosmos. Das Umgekehrte war in der alten Initiationswissenschaft vor Jahrtausenden vorhanden. Immer kamen aus dem Inneren der Urmenschheit heraus diese dann zu Legenden, zu Mythen, zu Göttersagen ausgebildeten traumhaften Imaginationen. In denen lebte man. Man sah hinaus in die Welt, und man erlebte seine traumhaften Imaginationen. Wenn man nicht in diesen traumhaften Imaginationen lebte, lebte man in dem Naturdasein. Man sah den Regenbogen, die Wolken, die Sterne, die über den Himmel eilende Sonne, man sah die Flüsse, man sah die Berge in ihrem Werden, in ihrem Wesen, man sah die Mineralien, die Pflanzen, die Tiere. Und das alles, was man da sah mit den Sinnen, das wurde gerade für die Urmenschheit das große Rätsel. Die Menschheit empfand sich innerlich beglückt, wenn sie ihre traumhaften Imaginationen hatte. Da draußen ist eine entgötterte Natur. Und es erschien die Natur wie eine von der göttlichen Geistigkeit abgefallene universale Welt. [5]

Jene alten Mysterienweisen, die zugleich Priester und Lehrer und Künstler waren, die machten der Menschheit klar, daß auch in der abgefallenen Welt dieselben göttlich-geistigen Gewalten lebten, die der Mensch instinktiv in seiner traumhaften Imagination erlebte. Sie stellten dieser Menschheit dar die Versöhnung der gottabgefallenen Welt mit der göttlichen Welt, die der Mensch in seinen instinktiven Imaginationen wahrnahm. Der Mensch suchte diese tröstende Erkenntnis in den Mysterien. Wir sehen daher, wie gemeldet wird von diesen älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung, daß gerade dasjenige – das wird noch von dem Griechentum gemeldet –, was wir heute den jüngsten Kindern in der Schule beibringen, daß die Sonne stillstehe und die Erde sich ringsherum drehe, daß das in den Mysterien wie eine Geheimwissenschaft bewahrt worden ist. Die Erklärung der Natur, die war damals Geheimwissenschaft. Die alte Initiationswissenschaft konnte vom Geiste, den der Mensch instinktiv erlebte, in seinen Mythen verkörperte, ausgehen und zur Natur hinführen. Die neue Initiationswissenschaft muß von demjenigen, was dem Menschen heute erstes Erlebnis ist, indem er seine Naturgesetze wahrnimmt, an die er dann glaubt, sie muß von seiner Naturerkenntnis ausgehen und zurück den Weg in die geistige Welt durch Imagination, Inspiration und Intuition zeigen. [6]

Durch das, was wir den luziferischen Einfluß nennen, durch das Eingreifen von luziferischen Wesenheiten, lenkte der Mensch seine Gedankenkraft und andere Seelenkräfte, die er sonst nur auf das Erwerben von okkulten Ideen und Begriffen verwendet haben würde, ab auf das Studium solcher Dinge, die nur der physischen Welt angehören. [7]

Es wird in unserer Zeit von vielen Menschen der Weg zur Geheim-wissenschaft gesucht. Auf mancherlei Art wird das getan; und viele gefährliche, ja verwerfliche Prozeduren werden probiert. Deshalb sollen diejenigen, die etwas Wahrhaftes von diesen Dingen zu wissen meinen, anderen die Möglichkeit geben, einiges aus der Geheimschulung kennenzulernen. Es ist notwendig, daß etwas von dem Wahren bekannt werde, damit nicht das Irrtümliche großen Schaden anrichte. Durch die hier vorgezeichneten Wege kann niemand Schaden nehmen, der nichts forciert. [8] Den Weg zur Geheimwissenschaft kann jeder Mensch in dem für ihn geeigneten Zeitpunkte finden, der das Vorhandensein eines Verborgenen aus dem Offenbaren heraus erkennt oder auch nur vermutet oder ahnt, und welcher aus dem Bewußtsein heraus, daß die Erkenntniskräfte entwickelungsfähig seien, zu dem Gefühl getrieben wird, daß das Verborgene sich ihm enthüllen könne. Einem Menschen, der durch diese Seelenerlebnisse zur Geheimwissenschaft geführt wird, dem eröffnet sich durch diese nicht nur die Aussicht, daß er für gewisse Fragen seines Erkenntnisdranges die Antwort finden werde, sondern auch noch die ganz andere, daß er zum Überwinder alles dessen wird, was das Leben hemmt und schwach macht. Und es bedeutet in einem gewissen Sinne eine Schwächung des Lebens, ja einen seelischen Tod, wenn der Mensch sich gezwungen sieht, sich von dem Übersinnlichen abzuwenden oder es zu leugnen. Das ist die schönste Frucht geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse, daß sie dem Leben Stärke und Festigkeit und nicht allein der Wißbegier Befriedigung geben. Der Quell, aus dem solche Erkenntnisse Kraft zur Arbeit, Zuversicht für das Leben schöpfen, ist ein unversieglicher. Keiner, der einmal an diesen Quell wahrhaft herangekommen ist, wird bei wiederholter Zuflucht, die er zu demselben nimmt, ungestärkt hinweggehen. [9]

Zitate:

[1]  GA 13, Seite 11   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[2]  GA 13, Seite 36f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[3]  GA 56, Seite 33   (Ausgabe 1965, 372 Seiten)
[4]  GA 56, Seite 19f   (Ausgabe 1965, 372 Seiten)
[5]  GA 227, Seite 66f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[6]  GA 227, Seite 68f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[7]  GA 152, Seite 16   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[8]  GA 10, Seite 57   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[9]  GA 13, Seite 45ff   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 56:  Die Erkenntnis der Seele und des Geistes (1907/1908)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)