Erkenntnisvermögen der Alten

Der Mensch hat früher andere Fähigkeiten gehabt. Wenn wir zurückgehen in der geschichtlichen Entwickelung, finden wir, daß, je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, immer mehr und mehr der Mensch noch hineinblicken konnte in die geistige Welt. Aber diese Fähigkeiten waren nicht so, daß sie der Mensch frei handhaben konnte, sondern sie waren mehr oder weniger unfreiwillig im Menschen auftretend. So ähnlich, wie die Sehnsucht nach Schlaf über den Menschen kommt, so war ihm in früheren Zeiten die Kraft, dieses oder jenes zu erkennen, gekommen, aber diese Kraft ging dafür hinein in die geistige Welt. Damit der Mensch eine Etappe vorwärtsschreiten konnte auf dem Gebiete der freien Entschlußfähigkeit, auf dem Gebiete der Entwickelung zur Freiheit, mußte er abgeschlossen werden von den Kräften, die ihn früher allerdings näher der geistigen Welt gebracht haben, aber ihn auch unfreier gehalten haben. [1]

In den Brahmanenschulen sprach man von den vier Mitteln, durch die der Mensch sich auf seinem Lebenswege Erkenntnis erwirbt. Das erste ist etwas, was so in der Mitte schwebt zwischen Tradition und Erinnerung. Man unterschied nicht zwischen dem, was die Menschen selber erinnerten, und was sie überliefert bekommen hatten. Das zweite war «Vor-die-Augen-treten». Das dritte Erkenntnismittel würden wir das zusammenfassende Denken nennen. Noch ein viertes Erkenntnismittel wird im alten Brahmanentum mit aller Deutlichkeit gelehrt, das man folgendermaßen charakterisieren kann: etwas von anderen Menschen mitgeteilt bekommen. Da liegt zugrunde, daß man in den alten Zeiten das Erlebnis noch durchschaut hat, das darin besteht, daß ein anderer Mensch im gegenseitigen Verkehr in einem innerlich etwas angezündet hat. [2]

Da also verschaffte sich der Mensch seine Erkenntnis dadurch, daß er sich in einen anderen Zustand brachte oder in einen solchen sich versetzt fühlte. Der Mensch hatte sozusagen seinen Alltagszustand, wo er mit seinen Augen sah, mit seinen Ohren hörte, mit seinem gewöhnlichen Verstand die Dinge verfolgte. Aber dieses Sehen, dieses Hören, diesen Verstand verwendete er nur, um die äußeren praktischen Verrichtungen zu besorgen. Er wäre gar nicht darauf gekommen, diese Fähigkeit auch für Wissenschaft, für Erkenntnis zu verwenden. Für diese verwendete er das, was ihm in dem anderen Zustand erschien, wo er die tieferen Kräfte seines Wesens in Tätigkeit brachte. Im Erleben dieser ganzen Zustände war es so, daß der Mensch, wenn er in dem Erkennen durch seine tieferen Kräfte war, also in dem Erkennen, wo er sich zum Beispiel die Sankhyaphilosophie ausbildete, daß er dann nicht so fühlte, wie der heutige Mensch fühlt, der, wenn er Wissenschaft erwerben will, seinen Verstand anstrengen und mit seinem Kopf denken muß. Da fühlte er sich, wenn er sich Wissen erwarb, wie in seinem Ätherleib, der aber allerdings am wenigsten ausgeprägt war in dem, was heute physischer Kopf ist, sondern der in den anderen Teilen mehr ausgeprägt war. Der Mensch dachte viel mehr mit den anderen Gliedern seines Ätherleibes. Der Mensch fühlte sozusagen, daß er mit seinem Ätherleib dachte, daß er aus seinem physischen Leibe herausgehoben war. Aber er fühlte noch etwas in solchen Augenblicken der Wissensbildung, der Erkenntnisbildung: er fühlte, wie er eigentlich ein Ganzes mit der Erde war, wie wenn Kräfte durch Beine und Füße gingen, die uns mit der Erde verbänden. Er fühlte sein Wesen in die Erde hineinwachsen. Der Mensch, der in jenem alten Zeitalter das erlebte, sagte: In mir ist die Schlange regsam geworden. Er fühlte sich so, wie wenn er einen Schlangenfortsatz in die Erde hinein erstreckte und der Kopf das wäre, was herausragte aus der Erde. Und dieses Schlangenwesen fühlte er als das Denkende. [3]

So also hieß gewissermaßen Erkennen in den alten Zeiten: Ich bringe die Schlange in mir zur Tätigkeit. Was mußte geschehen, damit die neue Zeit eintrat, damit das neue Erkennen kam? Es mußte nicht mehr möglich sein, daß es solche Augenblicke gab, wo der Mensch sein Wesen in die Erde hinein durch die Beine und Füße hindurch verlängert fühlte. Und außerdem mußte das Gefühl im Ätherleib ersterben und mußte übergehen auf den physischen Kopf. Es ist ein guter Ausdruck für diesen Übergang, wenn man sagt: Man wird an den Füßen verwundet, aber man selber zertritt mit seinem eigenen Leibe der Schlange den Kopf – das heißt, es hört auf die Schlange mit ihrem Kopf das Denkorgan zu sein. Der physische Körper, namentlich das physische Gehirn tötet die Schlange, und die Schlange rächt sich dafür, indem sie einem das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Erde entzieht: sie beißt einen in die Ferse. Der Held der da tötete den Kopf der Schlange war Krishna. [4]

Solche inneren Schauungen (wie bei den Hirten der Verkündigung, siehe: Erkenntnismetamorphose) rühren davon her, daß die Kräfte des Erdenplaneten in den Menschen hereinwirken. Je weiter wir zurückgehen in der Entwickelung der Menschheit, desto mehr finden wir solche im Inneren des Menschen auftretende Schauungen, welche in ihrer ganzen Konfiguration, in ihrer besonderen Art und Weise verschieden sind je nach den verschiedenen Klimaten, nach den verschiedenen Erdterritorien und so weiter.

Was man dabei äußerlich entdecken kann, das ist allerdings vielfach trügerisch, denn die Menschen der älteren Zeiten waren auch nicht durchaus seßhaft. Was ihnen an inneren Erkenntnisfähigkeiten durch die Kräfte des Erdenplaneten zugekommen ist, das haben sie in irgendeinem Territorium der Erde entwickelt, sind dann durch Völker- und Stammeswanderungen nach anderen Territorien gezogen und haben dann das durch Vererbung weiter fortgepflanzt. So daß wir nicht immer sagen können, daß dasjenige, was da auftrat als innere Schauungen, unmittelbar zusammenhing mit dem Territorium, auf dem es gerade durch Menschen auftrat.

Nicht in bezug auf den astralischen Leib und das Ich, aber in bezug auf den physischen Leib und den ätherischen Leib ist der Mensch durchaus den Kräften der Erde hingegeben. [5]

Der Mensch bekam, wenn er dem Menschen begegnete, ein allerdings durch das gemeinsame Karma, durch das gemeinsame Schicksal bestimmtes, aber eben doch ein bestimmtes Bild, eine Anschauung von seinem Nebenmenschen, die sehr konkret als naive Imagination auftrat. Aus diesem innerlichen Anschauen hat sich dann unser gewöhnliches Sinnesanschauen entwickelt. Man könnte sagen, was den ganzen Menschen innerlich erfüllt hat, das innerliche Wahrnehmen, Schauungen bilden, das hat sich bei den Menschen ganz nach der Oberfläche der Sinne hin geschlagen in der neueren Zeit, und das ist unser Anschauen geworden, wie wir es heute namentlich im naturwissenschaftlichen Anschauen anbeten, wo wir nur gelten lassen wollen all das, was der Verstand aus den Anschauungen der Sinne kombiniert. [6]

Zitate:

[1]  GA 171, Seite 76f   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[2]  GA 217, Seite 109ff   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)
[3]  GA 142, Seite 86ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[4]  GA 142, Seite 89f   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[5]  GA 202, Seite 260f   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[6]  GA 202, Seite 262f   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)

Quellen:

GA 142:  Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe (1912/1913)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 202:  Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920)
GA 217:  Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs (1922)