Erbsünde – Erlösung von der Erbsünde

Was ist an dem Menschen, das der Erlösung bedürftig ist? Ich muß gestehen daß ich über diese Frage eigentlich die am meisten unzutreffenden Vorstellungen im Umkreise der Christenheit gefunden habe, und zwar aus dem Grund, weil man es heute nicht liebt, genau auf die Dinge einzugehen und die Fragen ganz ernsthaft zu stellen. Sie wissen ja doch natürlich, daß die Erlösungstat zunächst eigentlich etwas außerhalb des Verlaufes der gewöhnlichen äußerlichen Weltentwickelung ist. Nun ist ja schon in dem Begriff der Erbsünde etwas angedeutet, was aus der Subjektivität des Menschen herausführt, denn im wesentlichen handelt es sich ja um die Erlösung von der Erbsünde. Da entsteht natürlich die große Frage: Was ist die Erbsünde? Nun findet man aber, daß in vielen Auffassungen von der Erbsünde eigentlich, man kann schon sagen, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gotteslästerung liegt. Denn wenn man überzeugt davon ist, daß alles, was innerhalb der Schöpfung wirkt und lebt, dem göttlichen Schöpfer seinen Ursprung verdankt, dann muß man das Vorhandensein einer Sünde, die gewissermaßen hineininjiziert wird in den Weltengang, Gott zuschreiben, Es ist ja ein solches Zuschreiben der Sünde dem Gotte tatsächlich nichts anderes als eine Gotteslästerung, und es gibt auch keine Möglichkeit, auf der einen Seite die Erbsünde aufrechtzuerhalten und auf der anderen Seite von einem Gott zu sprechen, der als der einheitliche Schöpfer allem zugrunde liegt. Will man irgendeine Möglichkeit gewinnen, auf diesem Gebiet zu einem Begriff zu kommen, der keine Gotteslästerung involviert, dann muß man schon an der Dreipersönlichkeit des Gottes festhalten können. Die Dreipersönlichkeit des Gottes bedeutet ja durchaus nicht einen Übergang vom Monotheismus zu einer Vielgötterei, zu einer Dreigötterei, sondern sie ist absolut, wenn sie verstanden wird, richtig vereinbar mit einer durch und durch monotheistischen Weltauffassung. Allein es fragt sich: Durch welche uns Menschen subjektiv zugängliche Kraft kommen wir zu einer Empfindung von der Gottheit? Niemals hat man – das darf schon gesagt werden – innerhalb des Mysterienwesens, des christlichen und des außerchristlichen Mysterienwesens, eine andere Anschauung gelten lassen über das Hinkommen zu Gott als diejenige, daß Gott in der Liebe lebt. Und verstehen kann man diesen Satz eigentlich nur dann, wenn man sich fragt: Was könnten denn etwa andere Wege zu dem Gott sein als derjenige, der, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit Liebe gepflastert ist? Was könnten andere Wege zu Gott sein, respektive in welchen Imaginationen könnten wir Gott ansehen, außer in der Imagination der Liebe? Es gibt noch zwei Möglichkeiten, durch inneres Erleben sich dem Gotte zu nähern, außer dem durch Liebe. Es gibt noch zwei Möglichkeiten, nämlich den Weg der Weisheit und den Weg der Macht. Denn wenn wir uns den weisen Gott vorstellen, dann müssen wir, wenn wir auf die Vorstellung einen realen, konkreten Wert legen, uns diese Weisheit Gottes, die also dann in der Welt wirkt, so vorstellen, daß sie alle menschliche Weisheit übertrifft; und dann kommen wir sogleich dazu, keine Brücke zu finden zu Gott auf dem Weisheitswege. Es fehlt uns die Brücke, wenn wir auf dem Weisheitswege Gott suchen wollen, weil Gottes Weisheit alle Menschenweisheit unendlich überstrahlen muß und wir niemals in das Weben und Wesen Gottes hineinkommen könnten, wenn wir mit Menschenweisheit die Brücke hinüberschlagen wollen. Es ist nicht so, daß wir etwa unsere Menschenweisheit nicht als eine Gottesgabe ansehen dürfen, das ist sie. Aber wir dürfen nicht Gott auf dem Wege der Weisheit suchen, ebensowenig dürfen wir Gott auf dem Wege der Macht suchen. Denn wenn wir Gott auf dem Wege der Macht suchen würden, würde die Macht Gottes alles so überragen in allem Wirkenden, daß jede individuelle Freiheit ausgeschlossen wäre. Und daher wäre es unmöglich, daß irgendwie auf dem Erdenrunde eine Freiheit des Menschen sich entwickeln könnte, wenn wir Gott nur auf dem Wege desjenigen suchen wollten, was in ihm wirklich als Allmächtiges involviert ist. [1]

Der einzige Weg, der zu Gott wirklich führt, der das Geschöpf mit dem Schöpfer verbindet, ist der Weg der Liebe, die vom Menschen frei dem Gotte entgegengebrachte Liebe, welche nichts anderes ist als das allmenschliche Verständnis der von Gott dem Menschen entgegengebrachten Liebe. Ich spreche damit wiederum nicht etwas Individuelles aus sondern etwas, was eben, wie gesagt, Mysterienweisheit aller Zeiten ist, möge es nun so oder so herausgeholt werden aus dem Anfange aller Erkenntnis, darauf kommt es in diesem Augenblick nicht an. Es kommt darauf an, daß diese Erkenntnis: Gott ist die Liebe –, oder: Gott lebt in der Liebe – gemeinsame Mysterienweisheit aller Zeiten ist.

Wir müssen also klar unterscheiden den Weg, den das Menschengeschlecht eingeschlagen hat bis in die Nähe des Mysteriums von Golgatha hin, von Generation zu Generation, wo das Bewußtsein durchaus nicht in demselben Sinne wachend war, wie es heute ist. Gewiß, für die äußeren Verrichtungen war es ähnlich unserem heutigen Bewußtseinszustande, aber [die Menschen waren] immer fähig, sich gewissermaßen in Zustände zu versetzen oder hineinzukommen, die zwischen Wachen und Schlafen liegen und die sie zum Göttlichen hinführten durch unmittelbare atavistische, imaginative Anschauung, durch Anschauung des Göttlichen in Bildern. Die ältesten Urkunden sprechen ja sehr viel von dieser Art, sich dem Göttlichen zu nähern; das war die Art und Weise wie man sich dem Göttlichen näherte durch Weisheit, durch Menschenweisheit. Warum durfte man sich dazumal durch Menschenweisheit dem Göttlichen nähern? Ja, sehen Sie, der Bewußtseinszustand war herabgedämpft; dadurch war der Mensch behütet davor, in vollem Sinne mit derjenigen Intensität, wie das heute ist, diejenigen Eigenschaften in seiner Organisation mitzuerleben, die vererbte Eigenschaften sind, also mitzuerleben alles das, was durch Vererbung in den individuellen Menschen hineinkommt. Gewiß, auch in den alten Zeiten haben die Menschen etwas gegeben auf ihre vererbten Eigenschaften, auf Rasseneigenschaften, auf Blutsver­wandtschaft und dergleichen Dinge, aber dem stand immer gegenüber das Annehmen eines Geistigen in diesen vererbten Eigenschaften. Tatsächlich erlebte der Mensch träumend in sich die vererbten Eigenschaften der Erbsünde als die Impulse, die ihn immerzu vom Göttlichen abdrängen, die ihn immerzu dazu drängen, hinunterzusinken unter die Stufe seines Menschlichen. Er hatte aber gewissermaßen das Gegengewicht in dem atavistischen Hellsehen, so daß er nicht völlig aufging innerhalb dieser Vererbungsströmung. Daß er in diese Vererbungsströmung mit dem vollen Bewußtsein eindrang, das stellte sich erst klar ein um die Zeit des Mysteriums von Golgatha; da kommt der Mensch tiefer und intensiver in diese Vererbungsströmung hinein. So kann man sagen: Der Mensch wurde im Laufe seiner Entwickelung hinuntergeleitet zum Erleben der Erbsünde, und er ist bedürftig geworden der Erlösung von diesem Erbübel; aber er brauchte diese Erlösung erst von dem Moment an, als das Mysterium von Golgatha in der Menschheitsentwickelung hereinkam. So hat in den älteren Zeiten die Menschheit den Weg zu Gott durch die Weisheit, und zwar durch die noch nicht voll in die Erbsünde hineinverstrickte Menschenweisheit, suchen dürfen. Das ist korrumpiert worden in den letzten Phasen des Heidentums, das ist auch korrumpiert worden in den letzten Phasen des Judentums; nur ist es so, daß eigentlich die geschichtlichen Nachrichten allein von diesen letzten Phasen berichten und nicht von demjenigen, was vorangegangen ist. [2]

Was ist es denn also eigentlich, was den Menschen nun innerhalb der Erdenwelt hinunterträgt in die Region der ererbten Eigenschaften? Fragen wir nach, was es ist. Wir kommen hier auf Begriffe, die, ich möchte sagen, dem heutigen Erdenmenschen recht sehr peinlich sind, denn man kommt auf ein Gebiet zu sprechen, über das der heutige Mensch entweder sehr leicht sich hinweghilft mit allerlei Tiraden, oder aber das er in dem Sinne faßt, wie es seit einiger Zeit üblich geworden ist – wie es allerdings von Anthroposophie nur als der Gipfelpunkt der Sünden-Erkenntnis aufgefaßt werden kann – im psychoanalytischen Sinne (siehe: Psychoanalyse). Wir kommen da zu einem Gebiet, wo berührt werden muß die niedrigste – nur mit Bezug auf die Weltorientierung niedrigste – Phase des Liebeslebens, das ist das geschlechtliche Liebesleben. Aus demselben, aus dem heraus der Mensch auf menschliche Art geboren wird, aus demselben heraus entsprang dasjenige, was der Mensch erlebte in der alten Weisheit. Nur wurde der Mensch in dieser alten Weisheit, ich möchte sagen, nicht voll erweckt zu dem Leben in den Impulsen der Vererbung. Voll erweckt wird der Mensch eben hier auf der Erde durch die Liebe, zunächst wie sie auftritt als die geschlechtliche Liebe, und als Fortsetzung der geschlechtlichen Liebe durch die Kindesliebe und die Elternliebe, die, solange sie ans Blut gebunden sind, immer etwas haben, was den Menschen tiefer hinunterdrängt, als er eigentlich nach der ursprünglichen göttlichen Absicht in der Welt stehen sollte. Und so macht sich die Notwendigkeit geltend, gerade von der Liebe ausgehend diese Liebe zu heiligen, indem an die Stelle des Blutsahnherrn, der Blutsahnenherrschaft, derjenige Ahnherr gesetzt wird, zu dem man sich bekennt nun nicht aus den vererbten Eigenschaften heraus, sondern aus den eigenen Eigenschaften, die man sich als Mensch über die vererbten Eigenschaften hinaus entwickeln kann, oder die an dem Menschen über die vererbten Eigenschaften hinaus entwickelt werden können. Zu einem solchen Ahnherrn sich bekennen, heißt, in das Bewußtsein aufzunehmen zu der Blutsverwandtschaft hinzu diejenige Verwandtschaft, die aus freier Wahl, aus freiem Entschluß hervorgeht, das heißt, zu der Blutsverwandtschaft hinzuzunehmen die Wahlverwandtschaft mit dem Christus, mit dem Ahnherrn, der als der Ahnherr der Liebe auftritt, der vergeistigten Liebe, die nun nichts mit dem Blut zu tun hat, und die daher auch durchaus das ganze Menschengeschlecht ergreifen kann, weil sie aus freier Wahl hervorgeht, weil sie eine Wahlverwandtschaft ist.

Nun kam die große Erkenntnis, daß dasjenige, was früher auf der Erde nur im Blute gelebt hat, was irgendwie mit dem Blute zusammenhing, an das irdische Geistesleben und Seelenleben abgegeben worden ist. Wer hat es abgegeben? Derjenige, der in der Blutsverwandtschaft lebt und der aus der Blutsverwandtschaft in das menschliche Bewußtsein hinein die alte Weisheit sandte. Wer war das? Es war der Vatergott. Anerkannt mußte werden, daß der Vatergott so lebt, daß die Menschen Menschen bleiben konnten in einem gewissen Sinn, bis hin in die Zeit des Mysteriums von Golgatha. Da mußte er einen Entschluß fassen – und das menschliche Bewußtsein wird nur möglich dadurch, daß es so etwas versteht, daß es über alles irdische hinaufrückt nicht nur zu einem überirdischen Erleben, sondern zu einem [Verstehen des] überirdischen Entschlusses –, denjenigen, der mit ihm immer verbunden war, den Sohn, hinzugeben an die Erde, ihn durchgehen zu lassen durch ein Ereignis, wodurch nun der Sohn nicht mehr so mit dem Vater vereint war wie früher, sondern wo ein anderes Verhältnis des Sohnes zum Vater durch die Beziehung des Sohnes zur Menschheit eingetreten ist. [3]

So sagte man sich im alten Christentum, im Mysterienchristentum: Die Wahlverwandtschaft mit dem Christus reißt heraus aus der Erbsünde der Blutsverwandtschaft. Du magst schattenhaft empfinden dein Verhältnis zu dem Ereignis von Golgatha, dann bewirkt diese deine Empfindung nichts als höchstens wiederum Weisheit, die auch vor dem Ereignis von Golgatha da war, aber du kannst auch dein Verbundensein mit dem Christus so stark empfinden, du kannst dein Verhältnis zu dem Christus so stärken, daß du ihn liebst, wie du aus dem Blute heraus liebtest. [Wenn du das kannst,] dann, dann wirkt diese deine Liebesempfindung für den Christus in dir entgegengesetzt dem, wie die Erbsünde in dir wirkte, dann heilest du die Erbsünde in dir. Und dann wirkt der Vatergott, das der Welt Zugrundeliegende als der eine Aspekt, die eine Person der Gottheit, die eine Maske oder Gestalt der Gottheit, die aber verbunden ist mit der anderen Maske, der anderen Gestalt, der anderen Person der Gottheit, mit der Person des Sohnesgottes. Und wenn diese Liebe so stark wird, dann ist in der Tat im Menschen eine der Erbsünde entgegenwirkende Kraft da. Das macht sich dann aus dem Leibe heraus, in der Wirkung des Blutes in der Erbsünde, in den vererbten Eigenschaften geltend, aber wir gehen dann nicht auf in diesen vererbten Eigenschaften, wir erheben uns mit dem empfindenden und wollenden Blick, den wir auf Golgatha richten, über das Leben in der Erbsünde im Bewußtsein selber und bewirken dadurch eine so starke Kraft im Bewußtsein, die der Erbsünde entgegenwirkt. Es gibt keine andere Möglichkeit als dieses Hinblicken auf das Mysterium von Golgatha, um der Erbsünde entgegenzuwirken. Um dieser Erbsünde entgegen­zuwirken, gibt es keine Selbsterlösung, da gibt es eben nur die Erlösung durch den Christus, die Erlösung durch den Anblick des durch das Mysterium von Golgatha gehenden Christus.

Der letzte Ausfluß des Erbsündeprinzips, ist diejenige menschliche Erkenntnis, welche sich ganz und gar auf die vererbten Eigenschaften stützt. In dem Augenblick, wo – als eine letzte Phase – das, was hervorgeht aus den Impulsen, die in dem durch die Generationen rinnenden Blute liegen, übergeht in Erkenntnis, wird daraus intellektualistische Erkenntnis, wird es die Erkenntnis der modernen Naturwissenschaft. Sie ist die letzte Phase der menschlichen Erbsünde, sie ist der ins Abstrakte versetzte Geist des Altertums, sie ist dasjenige, was der Heilung bedarf, sie ist dasjenige, was nötig macht, daß der Mensch nun nicht mehr glaubt, daß er zu Gott kommt durch den Geist allein, wie es in alten Zeiten möglich war, wo das Göttliche durch Weisheit erreicht worden ist. Es ist die Empfindung nötig, daß der Mensch das Göttliche nicht allein durch Weisheit erreichen kann, sondern daß dieser Weg der Weisheit geheiligt werden muß. Das ist dasjenige, was nun durch die Folge des Ereignisses von Golgatha gekommen ist durch das Erleben der Erkenntnis in der Kraft des Heiligen Geistes. Wir haben die dritte Gestalt der Gottheit. Wir haben den einheitlichen Gott in drei Gestalten anzuschauen. [4]

So kann es keine andere Erlösung von der Erbsünde geben als diejenige durch den ChristusJesus; die anderen Sünden sind Folgesünden. Die individuellen Sünden werden von dem Menschen begangen, weil er eben durch die Erbsünde schwach sein kann, zur Sünde hinneigen kann. Diese individuellen Sünden finden ihren Ausgleich in dem, was durch Selbsterlösung erreicht werden muß; sie müssen durch Selbsterlösung im Verlaufe des irdischen oder überirdischen Lebens ausgeglichen werden. Dasjenige aber, was die Ursünde ist, die Mutter aller übrigen Sünden, das konnte nur durch die Erlösungstat des Christus aus dem Menschengeschlechte herausgenommen werden. Und wenn diese frei hinströmende Liebe vorhanden ist, wird auch unsere Weisheit in sich den Geist aufnehmen, der der heilende, der Heilige Geist ist – es ist das dasselbe Wort –, das heißt aber zu gleicher Zeit, daß kein anderes menschliches Verhältnis den Menschen erlösen kann als das Verhältnis zu dem historischen Christus, zu demjenigen, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Es gibt kein anderes menschliches Verhältnis, das von dem Menschen die Erbsünde wegnehmen kann als das Verhältnis zu dem historischen Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. [5]

Zitate:

[1]  GA 343, Seite 390ff   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[2]  GA 343, Seite 393ff   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[3]  GA 343, Seite 396f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[4]  GA 343, Seite 399f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[5]  GA 343, Seite 401f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)

Quellen:

GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)