Entelechie

Goethe hat erst später in seinem Faust eingesetzt: «Faustens Unsterbliches»; zuerst hatte er im Manuskript stehen: «Faustens Entelechie» – Entelechie, dieser aristotelische Begriff, der in einer viel intimeren Weise das Menschlich-Seelische, das durch die Pforte des Todes geht, ausdrückt, als selbst das Wort «Unsterbliches», das ein negatives Wort ist, während Entelechie ein positives Wort ist. Goethe hat etwas gefühlt von der Tiefe des Entelechiebegriffes. [1] Das, was Aristoteles als Entelechie darlegt, vollständig zu begreifen, dazu werden die modernen Philosophen noch lange Wege machen müssen. [2]

In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der Teile einer Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der Glieder derselben durcheinander. In der organischen ist dies nicht der Fall. Hier bestimmt nicht ein Glied eines Wesens das andere, sondern das Ganze (die Idee) bedingt jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen Wesen gemäß. Dieses sich aus sich selbst Bestimmende kann man mit Goethe eine Entelechie nennen. Entelechie ist also die sich aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft. Was in die Erscheinung tritt, hat auch sinnenfälliges Dasein, aber dieses ist durch jenes entelechische Prinzip bestimmt. [3] Goethe sieht Ausdehnung und Zusammenziehung nicht so an, als ob sie aus der Natur der an der Pflanze vor sich gehenden unorganischen Prozesse folgen würden, sondern er betrachtet sie als die Art, wie sich jenes innere entelechische Prinzip gestaltet. [4] Die Idee ist deshalb im Sinne Goethes als Entelechie, d. i. schon als tätiges Dasein zu fassen. [5]

Zitate:

[1]  GA 171, Seite 12   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[2]  GA 161, Seite 35   (Ausgabe 1980, 292 Seiten)
[3]  GA 1, Seite 83   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[4]  GA 1, Seite 94   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[5]  GA 1, Seite 234   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 161:  Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (1915)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)