Gefühle

Es führt das Vorstellungsleben in eine andere Welt, es führt das Gefühlsleben in eine andere Welt und wiederum das Willensleben in eine andere Welt. Dazu ist gerade die Menschenseele da, um eine Einheit zu bilden aus demjenigen, was in der vormenschlichen, also augenblicklich vormenschlichen Welt eine Dreiheit ist. [1] Der Mensch fühlt sich mit seiner Gefühlswelt in einem geistigen Reiche. Das ist dasjenige der zweiten Hierarchie. [2] Im Gefühle des Menschen lebt die Kraft der Archangeloi; man kann sagen: als unbewußtes Selbsterlebnis sind in uns die Willen gebenden Archai, die Gefühle gebenden Archangeloi und die Denken gebenden Angeloi. [3]

Das Gefühlsleben bleibt deshalb für das gewöhnliche Seelenleben verworren, weil der Mensch für das gewöhnliche Leben zwei Dinge, den Wahrnehmer und das wahrgenommene Objekt, nicht zu unterscheiden braucht, wenn er nicht erkennen will das gewöhnliche Gefühlsleben, zwei wesenhafte Dinge in sich selber, die einander gegenüberstehen. Man lernt sie erst erkennen, Subjekt und Objekt, wenn man sie untersuchen kann. Dann lernt man erkennen, wer der eigentlich Fühlende ist, und was eigentlich im Gefühlsleben wahrzunehmen ist. Da stellt sich die höchst bemerkenswerte Tatsache heraus, daß der Fühlende immer derjenige ist – so paradox es zunächst klingt –, der von uns noch nicht durchlebt worden ist. Wenn wir jetzt in diesem Augenblick fühlen, so fühlt in uns derjenige Mensch, den wir jetzt erst anfangen zu leben, und morgen und übermorgen, im nächsten Jahre weiterleben werden bis zu unserem Tode. Im Moment, wo wir fühlen, ist das sonst unbekannte Subjekt, unser Leben, das schon in uns steckt zwischen dem Augenblicke, wo wir fühlen, und dem Tod. Und dasjenige, was wahrgenommen wird, das ist das Leben, das wir durchlebt haben von der Geburt bis zu dem Momente, wo wir fühlen. Jegliches Gefühl verläuft so, daß unser zukünftiges Wesen unser vergangenes Wesen wahrnimmt. Wenn man das Gefühl in seiner Verworrenheit einfach in der Seele beobachten will, dann kann man nämlich gar nichts beobachten. Ebensowenig wie das Wasser, wenn Sie es nicht in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen, ebensowenig kann man das Gefühlsleben wissenschaftlich beobachten, wenn man es nicht auseinandernehmen kann, auseinanderlegen kann in das, was der Mensch war, bevor er gefühlt hat, und in das, nachdem er gefühlt hat, wenn man nicht weiß, was da schon als Keim so tief und tätig steckt, wie tätig der Keim in der Pflanze dieses Jahres steckt für die Pflanze des nächsten Jahres. [4] Das, was in unseren Gefühlen spricht als Sympathie und Antipathie, rührt noch aus dem alten Mondenzeitalter her. So daß der Mensch in seinem Verstande und seiner Vernunft erst im Laufe der Erdentwickelung so gescheit zu werden braucht, als er in seinen Gefühlen geworden ist durch die alte Mondenentwickelung. [5]

Jedes Gefühl, das in uns sitzt, das in uns auftritt, wird eigentlich nicht ganz geboren in uns, kommt nicht ganz zum Dasein. Würde alles, was in uns sitzt indem wir fühlen, herauskommen, so würde uns das, was da im Gefühle lebt, ganz anders ergreifen, ganz anders durchkraften. Das was hinter dem Gefühle sitzt, was das Gefühl zu einem Lebewesen macht, zu einem Lebewesen, dessen Leben gespeist wird aus dem ganzen Planetensystem, das kommt nicht unmittelbar heraus. Jedem Gefühle gegenüber empfindet man, es könnte gesteigert werden. Es könnte uns viel mehr verraten von dem, was in ihm liegt, es verbirgt etwas von dem, was in unserem Inneren lebt, was in den Tiefen der Seele ist, und was nur halb geboren heraufkommt. [6] Das, was von unserem Gefühl ungeboren verbleibt, lebt im Astralleib. [7] Wir leben als Menschen zwischen Geburt und Tod unser Gefühls- und Willensleben hin und wissen gar nicht, daß durch die Wogen unseres Gefühls- und Willenslebens, die wir verschlafen und verträumen, die Totenseelen leben. Sie sind immer da; sie leben in unseren eigenen Gefühls- und Willenswogen, und sie leben so, daß sie mitleben dieses Leben. Während wir mit unseren Sinnen die Umwelt gewissermaßen doch als etwas Äußerliches erleben, leben in unseren Gefühlen und in unseren Willensimpulsen die Toten intimer mit uns verbunden, als wir mit unserer Umwelt hier, insofern wir physisch verkörpert sind, innig verbunden leben. [8]

Während man als Mensch der europäischen Welt vergessen hat, daß die Gedankenwelt im Inneren wirkt, hat man bei der Gefühlswelt vergessen, daß das, was man fühlt und will, auch draußen ist. Man merkt keinen Zusammenhang mehr zwischen dem Gefühle und dem, was sich im Kosmos ausbreitet. Das ist dadurch geworden, daß Geister aus der Hierarchie der Archangeloi, nicht mitmachen wollten die Abtrennung des Mondes, sie blieben bei der fortlaufenden Sonnenentwickelung. Gewisse Erzengelwesen, die während der Sonnenent-wickelung es bis zur Menschheitsstufe gebracht hatten, wollten nun bei der Mondenentwickelung die Abspaltung des Mondes von der Sonne nicht mitmachen: die blieben bei der Sonne. Dadurch sind diese Geister in luziferische Entwickelungsbahnen hineingelangt. Die leben jetzt in unseren Gefühlen und machen, daß wir nicht heraus wollen aus uns; die wollen in uns bleiben, sie wollen nicht heraus aus unseren Gefühlen. [9] Sie beschränken dieses unser Fühlen, dieses unser Wollen auf das Innere. [10] Die Selbstbeobachtung, wenn sie nur unbefangen genug geführt wird, zeigt uns, daß das Gefühlsleben sich nach und nach im Physischen entwickelt. Die Lebensschicksalsfälle, die präparieren uns für das Gefühlsleben. Ein mathematisches Urteil, das unser Vorstellen durchdringt, das tritt plötzlich auf. Ein Gefühl können wir nicht plötzlich ausbilden. Ein Gefühl bildet sich langsam im Leben heraus und ist selber etwas, was mit uns wächst, was teilnimmt an unserem ganzen Wachstumsprozeß im physischen Leben. [11]

Den Zustand, den Sie innerlich erleben, wenn Sie Freundschaft mit Menschen schließen, wenn aus Neigung Sie dies oder jenes für einen Menschen tun, ist wirklich vergleichbar mit dem Traumleben. Sie finden das Traumleben in denjenigen Gefühlen, die von Mensch zu Mensch walten im äußeren Leben. [12]

Wer mit Bewußtsein die Träume erlebt, wer also jene Geistesgegenwart bis zurück zum Erleben der Träume hat – denn das gewöhnliche Erleben der Träume ist ein Reminiszenzerleben, ist eigentlich ein Nachher-Erinnern an die Träume, wenn man ihn also erfaßt während er ist, also gerade beim Durchdringen durch den Ätherleib, dann erweist er sich wie etwas Regsames. Dadurch aber, daß man dieses Erlebnis bekommt, daß man im Bilde drinnen ist, daß man also mit dem Seelischen sich regt, wie man sonst im wachen Leben mit dem Körperlichen in der Beinbewegung, in der Handbewegung sich regt, diese Regsamkeit taucht unter in unsere Leiblichkeit. Das Untergetauchte strahlt wieder zurück in unser waches Bewußtsein, als Gefühl, als Fühlen. Die Gefühle sind in unsere Organisation untergetauchte Träume. Wir erleben also die Gefühle dadurch, daß dasjenige in uns, was in unserem astralischen Leib ist (siehe beispielsweise: Bildekräfte), untertaucht in unseren Ätherleib und dann weiter in unsere physische Organisation, nicht bis zu den Sinnen hin, nicht also bis zu der Peripherie der Organisation, sondern nur in die innere Organisation hinein. Dann, wenn man diese erfaßt hat, zunächst durch imaginative Erkenntnis besonders deutlich erschaut hat im Momente des Aufwachens, dann bekommt man auch die innere Kraft, es fortwährend zu schauen. Wir träumen nämlich während des wachen Lebens fortwährend. Wir überleuchten nur das Träumen mit unserem denkenden Bewußtsein, mit dem Vorstellungsleben. So daß der eigentliche Ursprung des Fühlens zwischen dem astralischen Leib und dem Ätherleib liegt. [13] Unserem Gefühl sind ähnlich die Elementarwesen, die im Flüssigen leben. [14]

Wie nun der heutige physische Mensch ist, so prägt sich alles, was sein Seelenhaftes ist, in seiner physischen Leiblichkeit und in seiner ätherischen Leiblichkeit aus. Aber alles Seelische ist sozusagen gewissen Substanzen des Ätherischen zugeteilt. Was wir Gefühl nennen, drückt sich aus in dem Teile des Ätherleibes, der dem (äußeren) Lichtäther entspricht. Weil das so ist, deshalb sieht der Hellseher die Gefühle als Lichtformen. [15]

Verwandt sind mancherlei menschliche Gefühle miteinander, Ehrgeiz und Eitelkeit sind zum Beispiel verwandt mit der Furcht. [16]

Zitate:

[1]  GA 178, Seite 202   (Ausgabe 1980, 248 Seiten)
[2]  GA 26, Seite 41   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[3]  GA 161, Seite 14   (Ausgabe 1980, 292 Seiten)
[4]  GA 73, Seite 270ff   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[5]  GA 133, Seite 44   (Ausgabe 1964, 175 Seiten)
[6]  GA 153, Seite 113f   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[7]  GA 153, Seite 115   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[8]  GA 179, Seite 46f   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[9]  GA 162, Seite 212f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[10]  GA 162, Seite 215   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[11]  GA 202, Seite 31   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[12]  GA 202, Seite 37   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[13]  GA 207, Seite 53ff   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[14]  GA 211, Seite 205   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[15]  GA 114, Seite 156f   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[16]  GA 140, Seite 224   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 133:  Der irdische und der kosmische Mensch (1911/1912)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 161:  Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (1915)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 178:  Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen (1917)
GA 179:  Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917)
GA 202:  Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920)
GA 207:  Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil:. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich (1921)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)