Elias

Elias heißt – ja es ist schwer, das Wort im Deutschen auszudrücken – die weisende Kraft, das, was die Richtung, den Impuls gibt. [1] Man lernt, was in dem Geist des Elias wirkt, am besten dadurch kennen, daß man den 104. Psalm auf sich wirken läßt mit der ganzen Beschreibung des Jahve als der Naturgottheit, die durch alles hindurchwirkt. Nun ist Elias selbstverständlich nicht mit dieser Gottheit zu identifizieren; er ist das irdische Abbild dieser Gottheit, er ist jenes irdische Abbild, das zugleich die Volksseele des althebräischen Volkes ist. Eine Art differenzierter Jahve, eine Art irdischer Jahve, oder – wie man es im Alten Testament ausdrückt – wie das Antlitz des Jahve ist dieser Geist des Elias. [2]

An der Stelle der Weltgeschichte, auf die dort (4. Mose 25, 10-12) hingedeutet wurde, wird auch nach der althebräischen Geheimlehre und nach der neueren okkulten Forschung auf nichts Geringeres hingedeutet, als daß Jahve dem Moses mitteilte, daß er in Pinehas, dem Sohn des Eleasar, dem Sohn des Aaron, also in dem Enkel des Aaron, einen besonderen Priester, der für ihn eintritt, der mit ihm verbunden ist, dem althebräischen Volke übergibt. Und diese Geheimlehre und die neuere okkulte Forschung sagen da, daß in des Pinehas Leibe dieselbe Seele lebte, die später in Elias vorhanden war. [3]

Wir haben es in dem Elias zu tun mit einem umfassenden Geiste, der gleichsam unsichtbar im Lande des (Königs) Ahab umgeht, daß aber dieser Geist zuzeiten seinen Einzug hält in die Seele des Naboth, gleichsam die Seele des Naboth durchdringt, so daß Naboth die physische Persönlichkeit des Elias ist.Der Geist ist zu groß – das zeigt uns gerade die geisteswissenschaftliche Forschung –, um völlig wohnen zu können in der Seele seiner irdischen Gestalt, in der Seele des Naboth. Er umschwebt sie gleichsam wie in einer Wolke, aber er ist nicht nur in Naboth, sondern er geht herum wie ein Naturelement im ganzen Lande und wirkt in Regen und Sonnenschein. [4]

Was später in einem einzelnen Menschen wohnen sollte (in Johannes dem Täufer), das war gleichsam bei Elias noch die Gruppenseele des althebräischen Volkes. Es war noch in den übersinnlichen Welten, was als die individuelle Seele herabsteigen sollte in jede einzelne Menschenbrust, als die Johanneische Zeit herankam. [5]

Eine Art von Hellseherin haben wir in der Königin Jesabel zu sehen, während wir in König Ahab einen Mann zu sehen haben, der in besonderen Ausnahmezuständen das hatte, was aus den verborgenen Kräften der Seele ins Bewußtsein hereintreten kann, er hatte manchmal Ahnungen, Visionen dann, wenn er irgendeiner besonderen Schicksalsfrage gegenüberstand. In dieser Zeit hörte man in jenen Gegenden in der mannigfaltigsten Weise, daß es einen großen bedeutenden Geist gäbe, den Elias. Nur einzelne Persönlichkeiten, die man die eingeweihten Schüler dieses Geistes nennen kann, wußten, wie es eigentlich um die Sache stand, wußten auch in der physischen Welt, in der äußeren Wirklichkeit den Mann zu finden, welcher der Träger dieses Geistes war. Der König Ahab wußte es nicht. Aber er hatte eine ganz besondere Angst, eine Art von besonderem Schauergefühl, wenn auf diese Persönlichkeit hingedeutet wurde. [6]

Es war durch das Völkerschicksal diejenige Individualität, die mit dem Namen des Propheten Elias bezeichnet wird, ausersehen, um den Jahve-Gedanken in einer (neuen) Weise zuerst in der eigenen Seele zu erfassen. – Wenn wir von einem Fortschritte des Jahve-Gedankens sprechen können, müssen wir diesen Fortschritt in der folgenden Art charakterisieren. Auftreten sollte nun ein Gottesgedanke, der zwar der alte Jahve-Gedanke war, aber von einem höheren Verständnis der Menschen durchdrungen, so durchdrungen, daß man sich sagte: Was auch in die äußere Welt eintrete, wie auch der Mensch beseligt dahinleben möge, wie ihn auch Not und Elend treffen mögen, diese äußeren Dinge sind in keiner Weise beweisend für die Güte oder den Zorn des Jahve, sondern der hat den richtigen Begriff, die rechte Hingabe an den Jahve-Gedanken, der auch in der größten Not und im größten Elend in dem Aufblick zu dem unsichtbaren Gotte nicht wankend wird, der durch die Kräfte allein, die in seiner Seele walten, und durch keinerlei äußere Beobachtungen, äußere Bekräftigungen die Gewißheit empfängt: Er ist! – Dazu war notwendig, daß in der Seele dieser Persönlichkeit ganz besondere Kräfte aus den verborgenen Untergründen und Tiefen aufstiegen, die vorher nicht bei den Menschen, auch nicht bei den Lehrern der Menschheit waren. Eine Art mystischer Einweihung erster Art, durch welche die Kunde von einem solchen Gott hereinziehen konnte, mußte sich in der Wesenheit des Elias abspielen.

Mit dem, was solche Persönlichkeiten als einen bedeutsamen Ruck nach vorwärts zuerst in ihrer eigenen Seele erleben, stehen sie ja allein da. Aber sie versammeln Schüler um sich, die nur von unten zu ihm aufblickten, aber doch in einer gewissen Weise wenigstens wußten, um was es sich handelte, wenn sie auch nicht sehr tief in seine Seele hineinschauen konnten. Die andern Menschen aber wußten nicht, wo derjenige steckt, in dem solches vorging. Die äußere Persönlichkeit solcher Geister ist zuweilen eine recht unscheinbare. Die Schüler wissen es. Irgendwo, vielleicht in einer höchst unscheinbaren äußeren Stellung, tritt die äußere Persönlichkeit auf. [7]

König Ahab suchte die Persönlichkeit überall, nur nicht in dem Besitzer eines kleinen Gutes, das in seiner unmittelbaren Nähe war. Jesabel wußte es. In dem biblischen Naboth haben wir den physischen Träger der geistigen Individualität des Elias zu sehen.

Es kam in jener Zeit der Hungersnot in gewisser Weise auch über Naboth die Not. In solchen Zeiten, wo nicht nur der Hunger wirkt, was in der damaligen Zeit allerdings der Fall war, sondern wo auch das unendliche Mitleid mit den Hungernden, mit den Bedrängten wirkt, sind die Verhältnisse besonders günstig, daß in dem durch sein Schicksal oder durch sein Karma dazu Vorbereiteten jene verborgenen Seelenkräfte hereinkommen können, durch die er zu einer solchen Mission sich aufschwingen kann. [8] Er hungerte aus keinem anderen Impuls, als um das Schicksal der andern in einem erhöhten Maße zu teilen. Seine Seele aber war in einer unausgesetzten inneren Kontemplation dem Gotte hingegeben. Daß er damit richtig handelte, zeigte sich ihm wieder in einem Zeichen, in einem inneren Gesichte, das wiederum mehr war als eine bloße traumhafte Vision, indem vor ihm in aller Lebendigkeit das Bild des Gottes stand, der ja in seiner Seele lebte und ihm sagte: «Harre aus, ertrage alles! Derjenige, der die Menschen und auch dich ernährt, wird dir das Nötige geben. Nur unbedingtes Vertrauen in den ewigen Bestand der Seele mußt du haben!» Das Bild trat auf, als ob er – ein Einsiedler, der die Sache mehr in bildhafter Realität darstellte – hinginge an den Bach Krith, dort sich verberge und sich von dem Wasser des Baches, solange eines da war, tränkte und sich nährte von dem, was ihm der Gott schickte, was er eben unter der Not der Zeit noch haben konnte. Es erschien ihm als Bild einer besonderen Gnade des Gottes, daß ihm die Raben diese Nahrung zubrachten. Dann sollte er eine noch höhere Stufe in bezug auf die verborgenen Seelenkräfte erleben. Er versuchte noch tiefer, so würden wir heute sagen, in jene Meditation sich hineinzuversenken, von der er ausgegangen war. Er sagte sich: Wenn du überhaupt der Vision gewachsen sein sollst, so mußt du im Grunde genommen innerlich, auch in den tiefsten Kräften deiner Seele, ein ganz anderer werden, als du bis jetzt gewesen bist. Du mußt eigentlich die Seele, die in dir lebt, überwinden, ablegen, und du mußt aus deinen tieferen Seelenkräften heraus in einer neuen Art dasjenige beleben, was du zwar hast, was aber so, als dein eigentliches Ich nicht bleiben darf, wie es ist. Wiederum ergab sich für ihn eine Art Gesicht, eine Art Vision, aber eben etwas, was viel mehr ist als eine Vision und doch viel weniger Wert hat, denn den eigentlichen Wert haben die inneren Seelenvorgänge.

Es ergab sich ihm das Gesicht, daß sein Gott, der sich ihm offenbart hatte, ihn nach Sarepta schickte, daß er dort eine Witwe antraf, die einen Sohn hatte. Jetzt erscheint ihm die Art und Weise, wie er leben soll, gleichsam personifiziert in dem Schicksal dieser Witwe und ihres Sohnes. Die haben kaum mehr etwas zu essen, so tritt die Vision vor seine Seele. Das letzte, was sie haben, wollen sie noch anwenden und dann sterben. Er aber sagt jetzt das, was er im Grunde genommen zu seiner eigenen Seele von Tag zu Tag, von Woche zu Woche im einsamen Nachdenken gesagt hatte, wie in einem Traum, wie in einem Gesicht zu dieser Witwe: «Sorget nicht, bereitet ruhig aus dem Mehl, das ihr noch habt, das Mahl, das bereitet werden soll für Euch und auch für mich. Vertrauet für alles, was kommen soll, auf den Gott, der Glück und Unglück bringen kann, an dem man nie irre werden darf!» Es zeigte sich ihm im Gesichte, daß der Mehlbehälter und der Ölkrug nicht leer wurden, sondern sich immer wieder füllten. Sein ganzer Seelenzustand drückte sich im Gesichte so aus, als er gleichsam für diese Persönlichkeit reif geworden war, als ob diese Persönlichkeit hinzöge in das Haus der Witwe und in dem oberen Stockwerk dieses Hauses wohne. Aber die innere Realität ist die, daß die eigene Seele gleichsam ein höheres Stockwerk besteigt, zu einer höheren Stufe ihrer Entwickelung hinaufgelangt. Jetzt aber tritt ihm im Gesicht entgegen, wie der Sohn jener Frau stirbt. Das ist nichts anderes als die symbolische Widerspiegelung dafür, wie er überwunden, gleichsam getötet hat, was sein Ich bisher war. Die unterbewußten Kräfte seiner Seele fragen ihn: «Was sollst du jetzt tun?» Er steht gewissermaßen ratlos da. Da nimmt er sich selbst zusammen durch die Kraft, die bisher in ihn geflossen ist. Da stellt sich dar, daß nachdem der Sohn dieser Witwe gestorben ist, diese Frau ihm Vorwürfe macht, das heißt sein eigenes seelische Unterbewußtsein ihm Vorwürfe macht und ihm Besorgnis einjagt: Das alte Ich-Bewußtsein ist nun fort, wie nun weiter? – Im Bilde dargestellt ist es so, daß er den Sohn zu sich kommen läßt, sich kühn in seine Seele weiter vertieft und dadurch den toten Sohn wieder zum Leben bringt. Das gibt ihm Mut zur weiteren Belebung des neuen Ich aus dem alten Ich. [9]

So reifte seine Seele heran, daß sie in sich die Kraft haben konnte, nun auch wirklich vor die äußere Welt hinzutreten und zu verkündigen, was dieser äußeren Welt zu sagen war, vor allen Dingen vor den König Ahab hinzutreten, um zur Entscheidung zu bringen den Sieg der neuen Jahve-Auffassung gegenüber demjenigen, was aus der Schwäche der Zeiten an deren Stelle getreten war, und deren Repräsentant der König Ahab war. Die Bibel erzählt auch, daß der König Ahab heimging und der Jesabel mitteilte, was sich ereignet hatte am Berge Karmel (Sieg des Elias über die Baalspriester). Und sie sagte: Ich werde an Elias tun, was er an deinen vierhundertfünfzig Propheten getan hat, Elias muß nun dafür Sorge tragen, daß, wenn er durch die Rache der Jesabel mit dem Tode abzugehen habe, in einer gewissen Weise sein Geist in bezug auf das, was er der Menschheit zu sagen hat, weiter wirkt in dieser Menschheit. Da kam eine neue Offenbarung über ihn. Sein Blick wird auf eine ganz bestimmte Persönlichkeit hingelenkt, auf die er Naboth-Elias, sozusagen übertragen kann, was er der Menschheit zu geben hat. Sein Blick wird gelenkt auf Elisäus, auf Elisa, und die innere Erleuchtung sagte ihm: Weihe diesen Mann in dein Geheimis ein. In Damaskus sollte über Elisäus diese Erleuchtung kommen. In derselben Weise sollte über Elisäus die Erleuchtung kommen, so wie es uns später für den Apostel Paulus selbst angedeutet wird. Und nachdem Elias sich seinen Nachfolger hat erkiesen können, traf ihn auch bald die Rache der Jesabel. [10]

Der, den Elias-Naboth zu seinem Nachfolger erkoren hatte, mußte nun selber seinerseits heranreifen. Aber er reifte nun auf eine andere Art heran. Der Schüler sozusagen hat es schon leichter als der erste Lehrer. Ihm stand zur Verfügung die Kraft, zu der sich Naboth-Elias hinaufgeschwungen hatte. Naboth-Elias wirkte jetzt nach seinem Tode mit einer ganz besonderen Kraft auf den Elisäus herab, wie etwa der Christus Jesus selber nach seinem Tode, nach der Auferstehung auf seine Jünger gewirkt hat. Er sagte zu ihm: «Ich will mit dir heraustreten, aus dem Gilgal hinweg.» (Gilgul sollte es heißen, das bei den Kabbalisten Seelenwanderung bedeutet). Sie werden sich nicht zu wundern brauchen, wenn es sich durch die Geisteswissenschaft hier ergibt, daß Elisäus in der Tat durch das, was er in seiner Seele in innerer Kontemplation und Hingabe erlebte, nicht durch die Kräfte seiner physischen Natur, sondern durch seine höheren Kräfte bei Elias war, das heißt mit ihm in einer höheren Welt beisammen war. Und die Stufen, die er in der Seelenentwickelung durchzumachen hatte, gibt ihm jetzt der Geist des Elias an. Er macht ihn aber überall darauf aufmerksam, wie schwierig der Weg ist, den er zu durchmessen habe. In Stufen geht es hinauf – dorthin, wo er sich erst vereinigt fühlt mit dem Geist, der von Elias ausströmt. Die Ortsnamen, die da gewählt werden, sind nicht als Ortsnamen zu nehmen, sondern in ihrer wortwörtlichen Bedeutung als Seelenzustände. [11]

Und dann fragt Elias: «Was willst du eigentlich?» Elisäus antwortet, und das steht auch in der Bibel, nur so, daß man es herausholen muß in der wahren Lesart: «Ich will, daß zu meinem Geist als ein zweiter der deinige in meine Seele komme!» In der Bibel steht es unrichtig: «Daß mir werde ein zwiefältiger Teil von deinem Geiste.» 2. Kön. 2, 9 Da sagte Elias: «Wenn du, da ich mich jetzt in höhere Regionen zu erheben habe, meinen Geist sehen kannst, wie er in höhere Regionen aufsteigt, dann hast du erreicht, was du willst, und dann zieht meine Kraft in dich ein.» Und siehe da, Elisäus sah aufsteigen den Elias «im Wetter gen Himmel», nur der Mantel fiel zurück, das heißt die geistige Kraft, mit der er sich zu umhüllen hatte. Das war die geistige Vision, die sich ihm zeigte und ihn erkennen ließ, daß er der Nachfolger des Elias werden durfte. Und dann heißt es in der Bibel: «Und da ihn sahen der Propheten Kinder, die gegenüber zu Jericho waren, sprachen sie: «Der Geist des Elias ruhet auf Elisa.» [12]

Zitate:

[1]  GA 104, Seite 184   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[2]  GA 139, Seite 51   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[3]  GA 139, Seite 156   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[4]  GA 139, Seite 50f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[5]  GA 139, Seite 53   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[6]  GA 61, Seite 197f   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[7]  GA 61, Seite 200ff   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[8]  GA 61, Seite 202f   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[9]  GA 61, Seite 205ff   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[10]  GA 61, Seite 208uf   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[11]  GA 61, Seite 214f   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[12]  GA 61, Seite 216   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)

Quellen:

GA 61:  Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (1911/1912)
GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)