Cassinische Kurve – Lemniskaten und die Morphologie des Organischen

Bei unserer menschlichen Beobachtung liegt ja das in durchgreifender Weise vor, daß wir in einer ganz anderen Art uns verhalten zu demjenigen, was unser eigener Zustand ist, und demjenigen, was nicht unser eigener Zustand ist, was also gewissermaßen, abgesehen von uns, außer uns sich abspielt. Wenn Sie irgendeinen Gegenstand vor sich haben, so sehen Sie ihn, beobachten Sie ihn. Dasjenige, in dem Sie leben, Ihre Leber, Ihr Herz, die Sinnesorgane selber zunächst, das können Sie nicht beobachten. Dieser Gegensatz ist aber auch vorhanden, wenn auch nicht in demselben scharfen Maße, in bezug auf Zustände, in denen wir uns in der Außenwelt befinden. Wenn wir selber in Bewegung sind, können wir, wenn es möglich ist, unbewußt zu bleiben über dasjenige, was wir zu dieser Bewegung unternehmen müssen, von dieser Bewegung selbst nichts wissen und können dann unsere Eigenbewegung unberücksichtigt lassen gegenüber äußeren Bewegungen; wir können uns gewissermaßen, trotzdem wir bewegt sind, als in Ruhe befindlich ansehen und nur die äußere Bewegung ins Auge fassen. Das ist ja dasjenige, was im wesentlichen der Interpretation der Bewegung der Himmelserscheinungen zugrunde gelegt worden ist. Sie wissen, es ist gesagt worden, daß der Mensch ja selbstverständlich, indem er auf einem Punkt der Erde steht, die Bewegung des betreffenden Punktes auf dem Parallelkreis im Raum durchaus mitmacht, aber nichts davon weiß, sondern im Gegenteil dasjenige, was außer ihm geschieht, als eine entgegengesetzte Bewegung sieht. Und von diesem Prinzip hat man ja in ausgiebigster Weise Gebrauch gemacht. Nun fragt es sich, wie dieses Prinzip eventuell sich modifizieren könnte, wenn wir darauf Rücksicht nehmen, daß wir ja in der menschlichen Organisation eine wirkliche Polarität haben: daß wir organisiert sind als Stoffwechselmensch im radialen Sinn, und daß wir orientiert sind als Hauptesmensch im Sphärensinn. Wenn nun unserer Eigenbewegung das zugrunde liegen würde, daß wir uns in verschiedener Weise verhalten würden in bezug auf den Radius und in bezug auf die Sphäre, dann würde das sich irgendwie bemerklich machen müssen in demjenigen was uns in der Außenwelt erscheint.

Nun stellen Sie sich einmal vor, daß dieses, was ich jetzt gesagt habe, irgendeine reale Bedeutung hätte, daß Sie zum Beispiel sich selber bewegen würden in der folgenden Weise (linke Figur), so daß Sie selber eine Lemniskate Lemniskate beschreiben. Aber nehmen wir zu gleicher Zeit an daß Sie die Lemniskate nicht so (geschlossen) beschreiben, sondern daß in einer gewissen Weise durch Variabilität der Konstanten (die Lemniskate oder die Cassinische Kurve ist definiert als Kurve aller Punkte, deren Produkt der Abstände von zwei Mittelpunkten einen konstanten Wert aufweist), die Lemniskate in der Weise entsteht, daß der untere Ast sich nicht schließt, so daß die Lemniskate diese Form hat (rechte Figur). In dieser Kurve, die durchaus mathematisch denkbar ist, werden Sie etwas haben, was, wenn Sie es in der richtigen Weise in die menschliche Gestalt einzeichnen, Sie in diese menschliche Gestalt durchaus hereinbringen. Man braucht nur die menschliche Natur wirklich morphologisch zu studieren, und man wird finden, daß diese Lemniskate so oder etwas modifiziert in vielfacher Weise in die menschliche Natur eingeschrieben ist. [1]

(Es muß zu diesem Punkt noch etwas Wesentliches angemerkt werden. Die Cassinische Kurve wird definiert als geometrischer Ort aller Punkte P, deren Produkt der Abstände zu zwei Punkten F1 und F2 einen konstanten Wert hat e2. Je nach den Konstanten a und e (Halbmesser F1 zu F2) erhält man Kurven verschiedener Gestalt (---). Wenn a gleich e ist erhält man die Lemniskate (––). Diese Kurve wird vom Punkt P folgendermaßen durchlaufen (rechte Zeichnung). Damit die Lemniskate im hier gemeinten Sinne entsteht, muß die ganze Kurve noch um die Achse () rotieren, während der Punkt durchläuft.)

Cassinische Kurve

Versuchen Sie einmal, Untersuchungen darüber anzustellen, welche Kurve entsteht, wenn Sie die mittlere Linie der linken Rippe zeichnen, über den Anschluß der Rippe hinausgehen in den Rückenwirbel, da sich drehen und wieder zurückgehen. Sie werden, je mehr Sie hinaufgehen zur Kopforganisation, notwendig haben, starke Modifikationen dieser Lemniskate vorzunehmen. Und Sie bekommen, wenn Sie gewissermaßen studieren die gesamte menschliche Figur in dem Gegensatz von Sinnes-Nervenorganisation und Stoffwechsel-Organisation, eine nach unten auseinandergehende und nach oben sich schließende Lemniskate. Sie bekommen auch Lemniskaten, nur sind die Lemniskaten eben sehr modifiziert, die eine Hälfte durch die eine Schleife ist außerordenlich klein, wenn Sie den Weg verfolgen, der genommen wird von Zentripetalnerven durch das Zentrum zum Ende der Zentrifugalnerven. Sie bekommen überall eingeschrieben, wenn Sie die Dinge sachgemäß verfolgen, gerade in die menschliche Natur in einer gewissen Weise diese Lemniskate. Und wenn Sie dann beim Tiere die tierische Organisation im ausgesprochen horizontalen Rückgrat nehmen, so werden Sie finden, daß diese tierische Organisation sich von der menschlichen Organisation dadurch unterscheidet, daß diese Lemniskaten, diese nach unten offenen oder auch etwas geschlossenen Lemniskaten, beim Tier wesentlich weniger Modifikationen aufweisen als beim Menschen, namentlich aber auch, daß die Ebenen dieser Lemniskaten beim Tier immer parallel sind, während sie beim Menschen schiefe Winkel miteinander einschließen. Dann, wenn man sich dadurch hilft, daß man gewissermaßen in die mathematischen Gebilde, die geometrischen Gebilde selbst Leben hineinbringt dadurch, daß man dasjenige, was in einer Gleichung (sie ist die mathematische Formulierung einer geometrischen Kurve) auftritt als unabhängige Veränderliche und abhängige Veränderliche, wiederum in einer gesetzmäßigen Weise innerlich veränderlich denkt, (also) Variabilität der ersten Ordnung und Variabilität der zweiten Ordnung. Das ist im Grunde genommen schon angedeutet in den Prinzipien, die man anwendet, wenn man etwa eine Zykloide oder eine Zykloide und Cardioide Cardioide (untere Zeichnung ein Punkt bewegt sich auf einem Kreis, dessen Mittelpunkt auf einer Kreisbahn sich bewegt, bei der Zykloide obere Zeichnung auf einer Geraden) und so weiter beschreibt. [2]

Wenn man gewissermaßen dieses Prinzip der innerlichen Beweglichkeit des Beweglichen selbst anwendet auf die Natur und versucht, dieses Bewegende des Beweglichen in Gleichungen hineinzubringen, so ist es möglich, mathematisch hineinzukommen in das Organische selber. So daß man wird sagen können: Die Voraussetzungen des starren, in sich unbeweglichen Raumes führen einen zum Begreifen der unorganischen Natur; wenn man übergeht zu dem in sich beweglichen Raum oder auch (was auf dasselbe herauskommt) zu Gleichungen, deren Funktionalität in sich selber eine Funktion darstellt, dann kann man auch den Übergang finden zu der mathematischen Auffassung des Organischen. In dem, was man gewöhnlich die scheinbaren (also geozentrisch betrachteten) Bewegungen der Planeten nennt, ist in einer ganz merkwürdigen Art an den Himmel gezeichnet in Bewegungsformen dasjenige, was eine Gestaltform, eine Grund-Gestaltform im menschlichen Organismus ist. [3] (Siehe auch: Astronomie).

Zitate:

[1]  GA 323, Seite 208ff   (Ausgabe 1983, 376 Seiten)
[2]  GA 323, Seite 210ff   (Ausgabe 1983, 376 Seiten)
[3]  GA 323, Seite 213   (Ausgabe 1983, 376 Seiten)

Quellen:

GA 323:  Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. Dritter naturwissenschaftlicher Kurs: Himmelskunde in Beziehung zum Menschen und zur Menschenkunde (1921)