Biographie

Wer eine Biographie mit wirklicher Aufmerksamkeit verfolgt, der wird sich sagen müssen: Immer wieder und wieder kommen in einer Biographie Ansätze vor zum Darstellen von Lebensereignissen, die nicht eigentlich in einer fortdauernden Erzählungsentwickelung begründet sind. Man hat, wenn man eine Biographie vor sich hat, eigentlich das Leben eines Menschen nur in einer gewissen Weise vor sich. Ins Leben eines Menschen spielen nicht nur diejenigen Tatsachen hinein, die er im Wachzustande erlebt, also: erster Tag – jetzt kommt die Nacht; zweiter Tag – jetzt kommt die Nacht; dritter Tag – jetzt kommt die Nacht und so fort, sondern es ist so, daß wir ja nur äußerlich erfühlen können, was an den Tagen geschehen ist, falls wir nicht eine geisteswissenschaftliche Biographie schreiben, was ja unter Umständen gegenüber der heutigen Zivilisation eigentlich eine völlige Unmöglichkeit ist. Wir schreiben also in die Biographie das hinein, was an den Tagen während des Wachzustandes des Menschen geschehen ist, über den wir die Biographie schreiben. Was aber das Leben eigentlich formt, was dem Leben Gestalt gibt, was dem Leben die schicksalsmäßigen Impulse einpflanzt, das ist ja nicht sichtbar in den Tagesereignissen, das spielt als Impulse zwischen den Tagesereignissen in der geistigen Welt, wenn der Mensch selber in dieser geistigen Welt vom Einschlafen bis zum Aufwachen drinnen ist. Im wirklichen Leben sind diese Schlafesimpulse durchaus darinnen; wenn wir die Biographien erzählen, sind sie nicht darinnen. [1]

Zitate:

[1]  GA 236, Seite 256   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)

Quellen:

GA 236:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Zweiter Band (1924)