Biographische Berichte festgehalten durch Schüler Rudolf Steiners
► Rudolf Steiner als Praktiker

Was dem Verfasser (Ehrenfried E. Pfeiffer) auffiel und auch heute noch viel zu denken gibt, ist die von Schritt zu Schritt fortschreitende Entwicklung, aus der man ersehen kann, wie gegenständlich Dr. Steiner arbeitete, das heißt, gerade nicht aus einer vorgefaßten, abstrakten Lehrmeinung, sondern aus den tatsächlichen Gegebenheiten heraus. Für die geistige Konzentration, die Rudolf Steiner in seinen Richtlinien ausübte, spricht die Tatsache, daß oft einige Sätze oder ein Abschnitt, z. B.im «Landwirtschaftlichen Kurs» GA 327, genügten, um damit die Grundlage für die gesamte Lebensarbeit eines Landwirtes oder Naturforschers zu schaffen. Man kann daher die Richtlinien nicht gründlich genug studieren und braucht nichts hinzuzuklügeln, sondern kann sich ganz von dem Vorgebrachten leiten lassen; das heißt, man braucht nur das Dargebotene auszuführen.

Dr. Steiner schilderte einmal in einer anderen, sehr ernsten Situation, aber mit einem verstehenden Lächeln, daß es im Verfolg der Entwicklung der anthroposophischen Arbeit zwei Typen gebe: die Älteren, die zwar alles verstanden. Aber dann geschehe nichts. Die Jüngeren, die das Unverstandene oder Halbverstandene sofort ausführten. In der landwirtschaftlichen Bewegung sind wir augenscheinlich den Pfad der Jüngeren gegangen, die durch die harte Schule der Wirklichkeit zu lernen hatten. [1] (von: Ehrenfried E. Pfeiffer)

Besonders langweilig fand ich (Assja Turgenjeff) uns (Eurythmistinnen), wenn Herr und Frau Doktor auf Reisen waren und wir allein eine Aufführung für sie vorbereiteten. Ein poetisches Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer versuchte ich ein bißchen zu beleben, indem ich das weiße Licht auf der Bühne wegnehmen und eine rote und blaue Birne, die von einer Faust-Aufführung noch in den Ecken hingen, einschalten ließ. Gespannt und ängstlich wartete ich in der Vorführung auf die Reaktion. Sie blieb nicht aus. Wie immer saß … Dr. Steiner angelehnt in seinem Sessel, wie träumend, nur der Fuß wippte. Gewiß waren seine Gedanken irgendwo ganz anders. Doch da kam das rot und blau beleuchtete Gedicht, und mit einem Ruck wachte er auf, schaute erstaunt in die Luft, beugte sich tief, um die Lampen zu sehen, und konnte kaum das Ende des Gedichtes abwarten. «Jetzt kommt ein ganz neues Element in die Eurythmie. Eine farbige Beleuchtung wird den Wechsel der seelisch-geistigen Stimmungen in einem Gedicht zum Ausdruck bringen.» Mit diesen Worten sprang er auf und verlangte, daß Architekt Aisenpreis und Ehrenfried Pfeiffer im Augenblick kommen sollten. Kaum waren sie da, gab er ihnen genau an, wo und wie farbige Beleuchtungskörper anzubringen seien. Mit meinen beiden Glühbirnen hatte ich gewiß nicht solche weiten Konsequenzen erwartet. Es ist aber ein Beispiel dafür, wie Dr. Steiner oft auf etwas von außen Kommendes wartete, um es zu ergreifen und etwas Großartiges daraus zu machen. [2]

Was ich (Ernst Lehrs) auf dem Programmzettel des Stuttgarter Anthroposophischen Hochschulkurses, angeheftet an das schwarze Brett der Universität, an der ich studierte, zu lesen bekam, schien mir von solchem Mut-fordernden Tatwillen im geistigen Sinne zu sprechen, und so machte ich mich zur Teilnahme auf. – An jene Empfindungen und Impulse sollte ich zurückdenken, als Rudolf Steiner später uns jungen Menschen in Zusammenfassung von manchem vorher Gesagten zurief: «Anthroposophie will sein die hohe Schule des Mutes.» Dieser Kurs brachte – außer Rudolf Steiners Vorträgen und denen seiner Mitarbeiter — täglich seminarartige Besprechungen über die verschiedenen wissenschaftlichen Fachgebiete. Der Inhalt im einzelnen kann nicht mehr wiedergegeben werden; abgesehen davon, daß die Erinnerung des damaligen Neulings bis auf wenige Einzelheiten versagt, gibt es auch leider keine Nachschriften jener denkwürdigen Besprechungen. Was aber unauslöschlich im Gedächtnis haftet, ist Rudolf Steiners persönliches Verhalten. Er war bei allen Seminarien freundlich zuhörend zugegen, ohne sich zunächst an der entstehenden Diskussion zu beteiligen. Meist aber trat dann der Augenblick ein, wo er sich selbst zum Wort meldete. Was er in Beantwortung einer gestellten Frage oder eines Einwurfes ausführte, ließ die Teilnehmer staunend einen Denker erleben, der in jedem Fachgebiet nicht nur völlig beschlagen war, sondern darüber hinaus zu dem üblichen Wissen Wesentliches aus seiner Kenntnis der geistigen Seite des Menschen und der Welt hinzufügen konnte. Ganz gleich,ob es sich um eine der naturwissenschaftlichen Disziplinen, um höhere Mathematik, Kunstgeschichte, Philosophie oder was immer handelte: stets gab er seinen Beitrag mit ruhiger, von innerer Sicherheit getragener Stimme und im Tone einer freundlichen Darreichung, die den Eindruck erweckte, daß es keinerlei Mühe bedürfe, dies alles zu wissen und zu können. Hier gab sich ein Geist zu erkennen, der auf andere Art zu umfassendem Wissen gekommen war als durch Zusammenholen wissenschaftlicher Kenntniseinzelheiten, die die eigene Lebenskraft zermürben; er lebte — so lernte ich es im Laufe der Tage empfinden — allem Wissen gegenüber auf höherer Warte und tauchte von dort aus in das jeweilige Gebiet ein, um dann davon zu reden, als habe er sich Zeit seines Lebens nur mit diesem einen Wissensgebiet befaßt. Man wird ermessen, was das dem Studenten bedeutete, der nach dem Menschen und dem Wissen vom Menschen dürstete. Dabei war es ein besonderes Erlebnis zu beobachten, wie außerordentlich verschieden Rudolf Steiner sich in anscheinend ähnlichen Situationen verhielt, sichtlich je nach den mitspielenden menschlichen Voraussetzungen der Fragenden. [3] (von: Ernst Lehrs)

Zitate:

[1]  Kr, Seite 171   (Ausgabe 1956, 0 Seiten)
[2]  Tu2, Seite 75   (Ausgabe 1972, 0 Seiten)
[3]  Kr, Seite 118f   (Ausgabe 1956, 0 Seiten)

Quellen:

Kr:  M. Krück von Poturzyn [Hrsg]: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler (1956)
Tu2:  Assja Turgenjeff: Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum (1972)