Biographische Berichte festgehalten durch Schüler Rudolf Steiners
► Der Hellseher

Da es hieß, Rudolf Steiner werde im Zusammenhang mit der Weihnachtstagung einen Medizinerkurs halten, dachte ich (Albrecht Strohschein), dieser biete vielleicht auch eine Möglichkeit für meine heil­pädagogischen Freunde. Nun waren freilich zur Tagung etwa achthundert Menschen in Dornach zusammengeströmt; wie sollte man da an Rudolf Steiner, dessen Arbeitslast so sichtbar zutage trat, als junger Mensch herankommen? An einem der ersten Tage — wir hatten in der Kantine zu Mittag gegessen —, ging ich vom «Glashaus» den Hügel hinauf zur «Schreinerei», gedankenverloren, und als ich den Kopf hob, stand Dr. Steiner vor mir, der allein von oben herunterkam. Ich zog den Hut und wollte einen ehrfurchtsvollen Bogen machen. Er hielt mir aber seine Hand entgegen und fragte: «Wie geht es Ihnen?» Diese Frage, von ihm dem großen Wissenden gestellt, konnte nicht die übliche Konvention bedeuten, und so faßte ich mir ein Herz, fing gleich von der Jenaer Arbeit zu erzählen an und fragte, ob meine Freunde Pickert und Löffler vielleicht am Medizinerkurs teilnehmen könnten? Ich war mit Dr. Steiner umgekehrt; wir waren abwärts gegangen und standen nun vor dem «Glashaus». «Das muß ich mir überlegen», sagte Rudolf Steiner, ich muß mit Frau Dr. Wegman sprechen, die ja den Kursus veranstaltet. Kommen Sie noch einmal zu mir.» Von diesem Begebnis ab drängten mich Pickert und Löffler jeden Abend nach dem Vortrag, die Antwort zu holen, doch das einzige, was ich erfahren konnte, war: «Ich habe noch keine Zeit gefunden, kommen Sie wieder.» Nachdem ich in dieser Art mehrere Male vergeblich nachgefragt hatte und die Freunde nichtsdestoweniger am nächsten Abend wieder drängten, wurde ich zornig und schleuderte ihnen, es war im Vorraum der «Schreinerei», ein grobes, deutliches Wort entgegen, drehte mich auf dem Absatz herum, von ihnen weg.— und stand vor Dr. Steiner. Er erschien in einer Seitentür und winkte mir. «Also, Sie können kommen, Sie drei.» — «Herr Doktor, ich habe nur für zwei Freunde gefragt», sagte ich stockend in der Überraschung des Augenblicks. — «Ja, kommen Sie, Sie drei», erwiderte er ruhig, worauf ich mich verpflichtet fühlte ihm zusagen, daß ich ja dann der Dritte wäre, der ich doch nicht Medizin, sondern Psychologie studiere. — «Ja, kommen Sie», sagte Rudolf Steiner abschließend. Zehn Jahre später nahm Dr. Ita Wegman bei einer Zusammenkunft Anlaß, diese Episode ihrerseits folgendermaßen zu erzählen: Ich habe drei junge Leute, habe Dr. Steiner ihr gesagt, die nehmen am Medizinerkurs teil, sie sind zwar keine Mediziner, aber sie nehmen teil. Die Worte seien so entschieden gesprochen worden, daß sie gar nicht dazu gekommen sei zu fragen, was mit den Dreien los sei. — Der Vorgang erscheint mir als ein Beispiel dafür, daß Rudolf Steiner den Augenblick genau erkannte, in dem die Impulse in den Seelen reif waren und daß er sie dann auch aufnahm und einordnete. [1]

Ich (Assja Turgenjew) konnte gerade erst meine fünf Vokale, als wir in der Probe zu «Fausts Grablegung» im Halbkreis stehen mußten, mit einer dicken Papierrose an der Brust, die wir vor uns auf die Bühne werfen sollten. (Da kamen zum ersten Mal die grünen Kleider der «unvollendeten Engel» und die hellvioletten der «vollendeten» mit den schönen Flügeln zur Verwendung.) Aber wie macht man (eurythmisch) die Diphtonge, das «eu» im Worte «Teufel» ? – das quälte mich in der Nacht, doch imTraume half mir Dr. Steiner aus dieser Schwierigkeit, indem er es mir vormachte. In der nächsten Probe merkte ich bei dieser Stelle seinen flüchtigen Blick in meiner Richtung. [2]

Bei einem persönlichen Gespräch, in dem Rudolf Steiner etwas sagte, was für mich ganz besonders unerwartet war, und ich bestürzt spürte, daß das zuviel war für mein Verstehen, erzählte er mir, was eigentlich der Sinn und die Bedeutung der einzelnen Gespräche mit ihm waren, wenn man ihn um Rat für das Leben oder für die Weiterentwicklung fragte. Er sagte: «Ich sage Ihnen nur das, was Ihr höheres Selbst Ihnen selber sagen würde, wenn Sie es hören könnten. Ich sage nicht meine Meinung, sondern lasse Sie erfassen, was an Möglichkeit im Geistigen vorliegt.» [3]

Einmal, beim Abschiednehmen, nahm Dr. Steiner meinen Mantel vom Kleiderständer, ihn mir zu reichen, merkte aber, daß der Mantel nur am Kragen hing – da der Aufhänger abgerissen war – und hängte ihn wieder zurück. Dafür mußt du dir nun selber in den Mantel helfen, sagte mir sein spöttischer Blick. Das Ganze war aber so charmant gemacht, daß ich beinahe hell auflachte. Im gleichen Vorraum, beim Abschiednehmen, wagte ich, eine Frage zu stellen und begann: «Herr Doktor, muß ich … ?» – «Sie müssen?» – unterbrach er mich – «Sie müssen gar nichts. Fragen Sie sich, ob Sie wollen, wenn Sie wollen, dann sollen Sie es auch, denn Wollen und Sollen sind ein und dasselbe. Ein und dasselbe», wiederholte er. So blieb meine Frage unbeantwortet. Es war aber oft so, man fragte sich, warum hat er eine solche Antwort gegeben? Man hatte anderes erwartet. Und doch, wenn man Monate – manchmal Jahre – später das Gespräch in der Erinnerung durchlebte, mußte man zu der Einsicht kommen: es war die direkteste vollste Antwort, die man haben konnte auf eine Frage, die nicht voll durchdacht und darum nicht exakt formuliert war. [4]

Rudolf Steiner berichtet aus der Zeit der Kindheit von dem bewußten Kontakt mit Verstorbenen, dann im 14. Lebensjahr von einer neuen Welt «geistiger Impressionen» und aus der Epoche des bedeutsamen Lebensabschnittes im 35. Lebensjahr von dem erneuten tiefgehenden Umschwung im Erleben einer realen geistigen Welt. Und dann stellt er dar, wie in der Zeit unmittelbar vor der Jahrhundertwende das Empfangen und Erleben geistiger Eindrücke immer systematischer in ihm selbst übergeführt wurde in die eigene geistige Schulung, durch das Werkzeug der Übung in bewußter Meditation und Konzentration. Er berichtete diesen inneren Werdegang mit den folgenden Worten: «Im Zusammenhange mit dem Umschwung in meinem Seelenleben stehen für mich inhaltsschwere innere Erfahrungen. — Ich erkannte im seelischen Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für die Einsichten in die geistige Welt. Ich hatte auch früher schon ein meditatives Leben geführt; doch kam der Antrieb dazu aus der ideellen Erkenntnis seines Wertes für eine geistgemäße Weltanschauung. Nunmehr trat in meinem Inneren etwas auf, das die Meditation forderte wie etwas, das meinem Seelenleben eine Daseinsnotwendigkeit wurde. Das errungene Seelenleben brauchte die Meditation, wie der Organismus auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung die Lungenatmung braucht… In einer solchen aus innerer geistiger Lebensnotwendigkeit geübten Meditation entwickelt sich immer mehr das Bewußtsein von einem «Inneren geistigen Menschen», der in völliger Loslösung von dem physischen Organismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen kann. Dieser in sich selbständige geistige Mensch trat in meine Erfahrung unter dem Einfluß der Meditation. Das Erleben des Geistigen erfuhr dadurch eine wesentliche Vertiefung. [5]

So sehen wir, wie in dem eigentlich ganz vergessenen Schröer der Goetheanismus vor dem Tore des in Spiritualismus verwandelten Intellektualismus stehen geblieben ist. Was konnte man denn eigentlich anderes tun, wenn man, ich möchte sagen, von Schröer angeregt ist, als weiter fortzuführen den Goetheanismus in die Anthroposophie hinein! Es blieb einem ja sozusagen nichts anderes übrig. Und oftmals stand dieses für mich ergreifende Bild vor meinem seelischen Auge, wie Schröer die alte Spiritualität an Goethe heranträgt, darinnen bis zum Intellektualismus vordringen kann und wie Goethe wiedererfaßt werden muß mit dem ins Spirituelle erhobenen modernen Intellektualismus, um ihn nun eigentlich vollständig zu verstehen. Dieses Bild ist mir selber gar nicht besonders leicht geworden; denn immer mischte sich wiederum ─ weil das, was Schröer war, nicht unmittelbar aufgenommen werden konnte ─ in mein Seelenstreben etwas von Opposition gegen Schröer (…) Aber, wie gesagt, was konnte man anderes tun, als die Stauung, die da eingetreten war, beheben und den Goetheanismus wirklich in die Anthroposophie hinüberführen! So sehen Sie, wie nun der Gang der Weltgeschichte in Wirklichkeit verläuft.» So war es das Schicksal Rudolf Steiners geworden, diesen Brückenschlag von Goethe zur Anthroposophie nun selber zu vollziehen. Als unter dem erschütternden Eindruck dieser Mitteilung Walter Johannes Stein Dr. Steiner fragte, wie weit denn Schröer diese Aufgabe hätte erfüllen können, wenn die Spiritualität Platos in ihm sich hätte entfalten können, da erhielt er die erstaunliche Antwort: «Bis in die Formen des ersten Goetheanums!» Und auf die weitere Frage Steins: «Was wäre dann noch Ihre Aufgabe gewesen?» sagte ihm Rudolf Steiner: «Die Offenbarung des Karmas und die soziale Frage.» Damit ist auf das Wesentliche und Neue der anthroposophischen Bewegung hingewiesen und auf die Bedeutung, die das Ernstnehmen des Karmagedankens, wie wir am Anfang dieser Betrachtung sahen, für das Gesellschaftsbewußtsein einer anthroposophischen Gesellschaft hat. Es war durch das Unvermögen Schröers das Schicksal Rudolf Steiners geworden, die in seinem geistigen Schauen neugewonnene Geistesweisheit in die Form von Gedanken zu kleiden. Ging es nicht einst auch so dem Aristoteles, dem Platoschüler, als es sich damals darum handelte, der alten Weisheit der Mysterien die Gedankenform zu geben? [6]

Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht ausführlicher schreiben kann; allein vor mir liegen die letzten wartenden Arbeiten für «Lucifer» Nr. 24 und 25. Und Sie können ermessen, wie mich das in Anspruch nimmt. Es ist notwendig, daß ich diese geheimwissenschaftlichen Dinge welche der Lucifer in den letzten Zeiten gebracht hat, veröffentliche (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? später GA 10). Allein die Verantwortung lastet schwer auf mir. Und ich muß jede Zeile, jede Wendung zehnmal erwägen, um möglichst genau den geistigen Inhalt wiederzugeben, der mir zu geben obliegt, und der mir doch selbst in ganz andrer Form und Sprache überliefert wird. [7]

Man sehe, wie in meiner «Mystik», im «Christentum als mystische Tatsache» der Begriff der Mystik nach der Richtung dieses objektiven Erkennens geführt ist. Und man sehe insbesondere, wie meine «Theosophie» aufgebaut ist. Bei jedem Schritte, der in diesem Buche gemacht wird, steht das geistige Schauen im Hintergrunde. Es wird nichts gesagt, das nicht aus diesem geistigen Schauen stammt. Aber, indem die Schritte getan werden, sind es zunächst im Anfange des Buches naturwissenschaftliche Ideen, in die das Schauen sich hüllt, bis es sich in dem Aufsteigen in die höheren Welten immer mehr im freien Erbilden der geistigen Welt betätigen muß. Aber dieses Erbilden wächst aus dem Naturwissenschaflichen, wie die Blüte einer Pflanze aus dem Stengel und den Blättern. — Wie die Pflanze nicht in ihrer Vollständigkeit angeschaut wird, wenn man sie nur bis zur Blüte ins Auge faßt, so wird die Natur nicht in ihrer Vollständigkeit erlebt, wenn man von dem Sinnenfälligen nicht zum Geiste aufsteigt. So strebte ich danach, in der Anthroposophie die objektive Fortsetzung der Wissenschaft zur Darstellung zu bringen.» Und über seinen inneren Entwicklungsgang in jenen Jahren sagt er:

«Dazu kam, daß ich nirgends in das Geistgebiet auf einem mystisch-gefühlsmäßigen Wege vordrang, sondern überall über kristallklare Begriffe gehen wollte. Das Erleben der Begriffe, Ideen führte mich aus dem Ideellen in das Geistig-Reale. Die wirkliche Entwicklung des Organischen von Urzeiten bis zur Gegenwart stand vor meiner Imagination erst nach derAusarbeitung der «Welt- und Lebensanschauungen» (1900)… Der Mensch als makrokosmisches Wesen, das alle übrige irdische Welt in sich trug, und das zum Mikrokosmos durch Absonderung des übrigen gekommen ist, das war für mich eine Erkenntnis, die ich erst in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts erlangte.» [8]

Vor einiger Zeit war ich (Rudolf Steiner) in die Notwendigkeit versetzt, den geistigen Verlauf der Menschheitsentwicklung geschichtlich in einer gewissen Richtung zu verfolgen. Es war, als ich die Einleitung schrieb zu meinem Buche Rätsel der Philosophie. Da war ich in der Lage, daß gerade für die ersten Jahrhunderte der christlichen Entwicklung ich ahnen konnte, daß da wichtige Impulse im abendländischen Geistesleben vorhanden sind. Allein, wenn man es ernst nimmt gerade mit der Erforschung des geistigen Lebens, wird man wirklich sehr bald die Gelegenheit haben zu bemerken, wie man recht bescheiden wird mit Bezug auf dasjenige, was der menschliche Forschungssinn vermag gegenüber den Tiefen der Welt. Und da gestehe ich denn offen – und gerade aus der Offenheit, mit der ich es gestehe, werden Sie etwas von dem erfühlen können, was als Wahrheit das zu Sagende durchdringt, – ich gestehe es offen, daß ich zunächst wie stumpf den eigenen Forschungssinn fand gerade gegenüber der philosophischen Eigentümlichkeit der ersten christlichen Jahrhunderte. Nun war eine befreundete Persönlichkeit unserer geistigen Bewegung einige Zeit vorher gestorben; und dasjenige, was als Seele gerade dieser befreundeten Persönlichkeit in der geistigen Welt war, konnte ich wie an mich herankommend fühlen, indem ich forschte nach diesen Eigentümlichkeiten der philosophischen Entwicklung in den ersten christlichen Jahrhunderten. Und da ich hier in der physischen Welt jene Persönlichkeit recht genau gekannt habe, war es möglich, aus dem, was nun in meine eigenen Empfindungen und Gedanken eindrang – ich meine dieses von hinten Eindringen, – das konnte ich erkennen als von dieser Persönlichkeit herrührend. Und sehr bald konnte ich Bekanntschaft fühlen mit dieser Seele, die genauere Einsicht nach dem Tode hatte über die ersten christlichen Jahrhunderte; und in mein eigenes Darstellen der Eigentümlichkeit des Charakters der ersten christlichen Jahrhunderte floss ein dasjenige, was diese Seele hineininspirierte. Und dasjenige, was ich dazumal selbst vermochte, was ich charakterisierte in meinem Buch Rätsel der Philosophie über diese Periode, das verdanke ich dem geistigen Zusammensein mit dieser sogenannten toten Seele, die eben einige Zeit vorher in die geistige Welt gegangen war. [9] (Öffentlicher Vortrag vom 17.5.1915 in Linz)

Ich bin in solchen Dingen nur Werkzeug von höheren – Wesenheiten, die ich in Demut verehre. Nichts ist mein Verdienst; nichts kommt dabei auf mich an. Das einzige, was ich mir selbst zuzuschreiben habe, ist, daß ich eine strenge Trainierung durchgemacht habe, die mich vor jeder Phantastik schützt. Dies war für mich Vorschrift. Denn, was ich erfahre auf geistigen Gebieten, ist dadurch frei von jeder Einbildung, von jeder Täuschung, von jedem Aberglauben. Doch auch davon spreche ich heute zu wenigen. Die Leute mögen mich für einen Phantasten halten; ich weiß Wahrheit und Trug zu unterscheiden. Und ich weiß, daß ich den Weg gehen muß, den ich gehe. [10]

Je weiter man auch auf dem Erkenntnisweg vorwärtsdringt, um so mehr wird man sich auch Devotion aneignen müssen; man wird immer devotioneller und devotioneller werden. Aus dieser Devotion fließt dann die Kraft zu den höchsten Erkenntnissen. Wer es dazu bringt, darauf zu verzichten, seine Gedanken zu verbinden, der gelangt zu dem Lesen der Schrift in der Akasha-Chronik. Eines ist aber dabei notwendig: das persönliche Ich so weit ausgeschaltet zu haben, daß es keinen Anspruch darauf macht, die Gedanken selbst zu verbinden. Es ist gar nicht so leicht, das zu verstehen, denn der Mensch macht darauf Anspruch, das Prädikat mit dem Subjekt zu verbinden. So lange er das aber tut, ist es ihm unmöglich, wirklich okkulte Geschichte zu studieren. Wenn er in Selbstlosigkeit, aber auch in Bewußtheit und Klarheit die Gedanken aufsteigen läßt, dann tritt ein Ereignis ein, welches, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, jeder Okkultist kennt, nämlich das Ereignis, daß sich die Vorstellungen, die Gedanken, die er früher nach seinem persönlichen Standpunkte zu Sätzen, zu Einsichten geformt hat, jetzt durch die geistige Welt selbst formen, so daß nicht er urteilt, sondern in ihm geurteilt wird. Es ist dann so, daß er sich hingeopfert hat, auf daß ein höheres Selbst geistig durch seine Vorstellungen spricht. Das ist – okkult aufgefaßt – das, was man im Mittelalter das «Opfer des Intellektes» genannt hat. Es bedeutet das Aufgeben meiner eigenen Meinung, meiner eigenen Überzeugung. So lange ich selbst meine Gedanken verbinde, und meine Gedanken nicht höheren Gewalten zur Verfügung stelle, die auf der Tafel des Intellektes dann gleichsam schreiben, so lange kann ich nicht okkulte Geschichte studieren. [11]

Nach meinem (Pastor Rittelmeyers) Eindruck, der sich im Lauf der Jahre immer mehr verstärkte, trug Rudolf Steiner manches ernste Weltwissen in sich, von dem nie einer seiner Vertrauten auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren hat. Er sprach immer als Erzieher, niemals als bloßer Verkünder. Anderes war ausgeschlossen. So viel er der Menschheit zumutete — ohne Rücksicht auf die Gegenschläge, die es für ihn brachte —, so schonungsvoll ließ er gerade nur das laut werden, was im Augenblick zur Not noch ertragen werden konnte. Meine damalige Begegnung mit Dr. Steiner endete damit, daß er wieder fragte: «Wollen Sie nicht heute Abend zu meinem intimen Vortrag; in der Theosophischen Gesellschaft kommen?» Er fügte freundlich hinzu, um mir die Zusage leichter zu machen: «Ich werde einiges aus der Jugendgeschichte Jesu erzählen, was in den Evangelien nicht steht. «Wie das wagen Sie?» fragte ich. «Glauben Sie, daß man das wagt, wenn man nicht muß?» erwiderte er. Es ist der Wille der geistigen Welt, daß die Menschheit jetzt mehr darüber erfährt. «Es wird sich schon herausstellen, wozu das gut ist.»

Steiner stand vor uns — ich konnte ihn, da ich in der ersten Reihe saß, in jeder Miene beobachten — und erzählte aus dem Leben des heranwachsenden Jesusknaben. Sein Blick ging etwas über die Versammlung hinweg, als ob er fest auf Bilder gerichtet sei, die er vor sich habe. Mit der größten Zartheit und einer besonders auffallenden Wachheit und Vorsicht zeichnete er diese Bilder nach. Gelegentlich floß es ein; «Ich weiß nicht genau, ob die Reihenfolge richtig ist; aber es scheint mir so zu sein.» Oder: «Ich habe den Namen des Ortes mit aller Mühe nicht finden können; es muß seinen Sinn haben, daß er wie ausgelöscht ist.» Die Ehrfurcht, in der er sprach, hatte nichts von Unfreiheit. Ganz aufrecht stand er vor dem Außerordentlichen. Eine reine Geistigkeit webte im Raum. Nichts von Gefühlen, die nicht ganz rein aus dem Geiste, der stark da war, herniedergeströmt wären. [12]

Zitate:

[1]  Kr, Seite 212f   (Ausgabe 1956, 0 Seiten)
[2]  Tu2, Seite 68   (Ausgabe 1972, 0 Seiten)
[3]  Gro, Seite 19   (Ausgabe 1989, 0 Seiten)
[4]  Tu2, Seite 72   (Ausgabe 1972, 0 Seiten)
[5]  Wa, Seite 5   (Ausgabe 1941, 0 Seiten)
[6]  Ra, Seite 35f   (Ausgabe 1991, 0 Seiten)
[7]  GA 264, Seite 95   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[8]  Wa, Seite 18   (Ausgabe 1941, 0 Seiten)
[9]  Euro 10/6, Seite 0   (Ausgabe 2006, 0 Seiten)
[10]  GA 264, Seite 73f   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[11]  GA 265, Seite 29f   (Ausgabe 1987, 521 Seiten)
[12]  Ri, Seite 54f   (Ausgabe 1928, 0 Seiten)

Quellen:

Euro 10/6:  Zeitschrift: Der Europäer, Jahrgang 10. Heft Nr. 6 (2006)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)
GA 265:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904 bis 1914 (1906-1924)
Gro:  Cara Groot: Marie Savitch. Ihr Leben und Wirken für Rudolf Steiners eurythmischen Impuls (1989)
Kr:  M. Krück von Poturzyn [Hrsg]: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler (1956)
Ra:  Wilhelm Rath: Rudolf Steiner und Thomas von Aquino (1991)
Ri:  Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner (1928)
Tu2:  Assja Turgenjeff: Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum (1972)
Wa:  Guenther Wachsmuth: Die Geburt der Geisteswissenschaft (1941)