Biographische Berichte festgehalten durch Schüler Rudolf Steiners
► Gespräche mit Rudolf Steiner – ein Beispiel mit Friedrich Rittelmeyer

Ein Vierteljahr später fand ich (Pastor Friedrich Rittelmeyer) mich auf dem Weg zum Vortrag Dr. Steiners in Nürnberg: «Von Jesus zu Christus». Auch meine Freunde, einige Ärzte zum Beispiel, hatte ich veranlaßt, den Vortrag zu besuchen. «Wir wollen vorurteilslos hören, ob dieser Mann nicht mehr über Christus sagen kann, als ich selbst sagen konnte». Der Vortrag war eine Enttäuschung. Schon äußerlich ärgerte mich manches: der Pelz, in dem er kam, der Zwicker, mit dem er die Anwesenden musterte, die auffallende schwarze Halsbinde. Aber ich hatte noch zu dem mir befreundeten Stuhlnachbar gesagt: Sehen Sie sich diesen Mann einmal genau an; wenn irgendeiner in der Gegenwart der Übermensch (nach Nietzsche) ist, dann ist er es! Nach dem Vortrag hatte ich dann das schmerzliche Gefühl: Nun weiß ich, daß mir auch dieser Mann über Christus nichts Befriedigendes sagen kann! Ich muß die Hoffnung aufgeben, in meinem eigensten Gebiet, dem religiösen, hier eine Förderung zu erfahren. Verletzend empfand ich namentlich die nüchterne Art, mit der hier über körperliche Vorgänge in Christus gesprochen wurde, Salzprozeß, Verbrennungsprozeß. Ich konnte die Worte Dr. Steiners noch nicht selbst beseelen und nahm sie zu sehr im Geist einer äußerlichen Naturwissenschaft. Vier Jahre später, als ich während eines Vortrags ähnliche Empfindungen gehabt haben mochte, kam Rudolf Steiner nach dem Vortrag eigens zu mir her und sagte, ohne daß ich meine Gedanken ausgesprochen hätte, in bedeutsamem Ton: «Es ist volle bewußte Absicht, daß ich so über diese Dinge spreche. Es würde zu sehr über das Gemüt der Menschen hereinbrechen, wenn ich anders spräche. Warten Sie nur, bis sich diese Dinge erst einmal fünfzig Jahre in der Menschheit entwickelt haben, wie sie dann in Gefühl und Willen sich auswirken!» Damals, im Nürnberger Vortrag, war nur ein Eindruck stark und positiv: die außergewöhnliche Geisteskraft und Beweglichkeit, mit der Dr. Steiner während des Vortrags sein Gesicht immer neu modellierte. Bald sah er ganz jung aus, bald ganz vergilbt; bald männlich mächtig, bald frauenhaft zart; bald wie ein trockener Lehrer, bald wie ein begeisterter Dionysos. Diesen Wechsel beobachtete ich mit wachsendem Interesse. So etwas war mir noch nicht begegnet. Gegenüber andern Rednern, die ich gehört, war hier vielleicht die zehnfache Wandlungsmacht, mindestens. Und ein nie gesehener Umfang von inneren Möglichkeiten. Also eine sehr große Überlegenheit des Geistes über den Körper? Eine sehr große Fülle des geistigen Lebens? Vielleicht doch Übermensch? Oder Weg zu ihm? — Nach dem Vortrag bat ich Dr. Steiner, ob ich ihn einmal sprechen könne. Als ich nun vor der Tatsache stand, Rudolf Steiner ganz persönlich gegenüber zu stehen, sagte ich zu meinem Freund Michael Bauer: «Es ist mir doch etwas unbehaglich zu Mut. Wenn der Mann wirklich die Aura sieht?» Fein und vergnügt lächelte Michael Bauer: «Der liebe Gott weiß es ja doch», sagte er. Da bäumte sich das Selbstgefühl auf. «Es ist mir überhaupt ganz einerlei, was der sieht. Der kann sehen, was er will.»

Vor dem Hotel Maximilian, wo Dr. Steiner damals wohnte, ging es mir noch durch den Sinn: Nun ja, heute hast du eine große Gemeinde und dieser Mann eine kleine; wenn er recht hat, dann wird in zwanzig Jahren er eine große Gemeinde haben, und du eine kleine; aber er hat Anspruch darauf, Menschen zu begegnen, die danach nicht fragen. Oben in der halb geöffneten Tür stand Rudolf Steiner, der eben einen andern Gast entlassen hatte, und schaute mir höchst aufmerksam zu, wie ich langsam die Treppe heraufstieg. Ich habe nie einen Menschen so aufmerksam beobachten sehen, wie er es konnte. Es war, als ob er — ganz unbeweglich, aber selbstlos hingegen — den andern sich selbst gleichsam noch einmal erschaffen ließe, in einem feinen Element der eignen Seele, das er ihm zu diesem Zweck darbot. Es war kein Nachdenken über den andern, sondern mehr ein inneres geistiges Nachbilden, in dem das ganze Werden des andern offenbar werden konnte. Erst viel später wurde mir die Erklärung zu diesem beobachtenden Blick, als Rudolf Steiner sagte, daß man aus dem Gang eines Menschen viel über sein Wesen in vergangenen Verkörperungen erfahren könne.

Meine erste Anrede an Dr. Steiner kann für ihn nicht recht erfreulich gewesen sein. «Ihre okkulten Erkenntnisse», sagte ich, «interessieren mich wenig. Ich habe im Religiösen meine Erlebnisse und sehe da unendliche Aufgaben vor mir. Auch habe ich auf dem okkulten Gebiet keine Begabung und fürchte ohne dies für meine Nerven. Aber ich möchte Sie gern über einiges fragen, was sich auf die Weiterentwicklung des Menschen bezieht.» Rudolf Steiner hörte sich das geduldig an und schien vor allem ruhig zu beobachten. In dem kleinen Zimmer, in dem schon der Reisekoffer einen großen Raum wegnahm, saß er im Licht mir gegenüber, so daß ich sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte. Nichts bewegte sich an ihm. Nur das obere der beiden übereinandergeschlagenen Beine redete von seiner geistigen Lebendigkeit. «Ihre Erkenntnisse leuchten mir nicht ein», fuhr ich fort. «Sie sagen aber immer, daß sie dem gesunden Menschenverstand einleuchten müssen. Daraus ziehe ich den Schluß, daß sie eben Ihnen einleuchten. Wenn sie aber Ihnen einleuchten und andern nicht, so könnten sie doch vielleicht unbewußt aus dem Denken selbst gekommen sein und nur scheinbar durch Hellsehen gefunden.» Rudolf Steiner erwiderte, abwehrend, aber ohne jeden Eifer: «Ich kann nur sagen, daß ich durch bloßes Denken niemals auf das gekommen wäre, was sich mir ergeben hat; im Gegenteil, es widersprach sogar vielfach dem, was ich gedacht hatte; erst nachträglich hat es sich dann auch dem Denken als richtig erwiesen.» Das leuchtete mir aber wieder gar nicht ein. Warum kann der Mensch nicht unbewußt ein doppeltes Denken in sich tragen, eines, das zu denken denkt, und eines, das wirklich denkt? Mir kommt heute noch dieser allererste Einwurf gegen Rudolf Steiner gescheiter vor, als das meiste, was ich bei den Gegnern gelesen habe. Aber es war merkwürdig, daß Rudolf Steiner ihn gar nicht ernst nahm. Er wußte, daß die Schlacht auf einem andern Gebiet geschlagen wird. Wir kamen auf die Wiederverkörperungslehre zu sprechen. Ich sagte, es sei mir gar kein Zweifel, daß der Mensch nach dem Tode weiterlebe und sich weiterentwickle; aber ob er dazu auf die Erde kommen müsse, sei mir mindestens recht fraglich. Auch finde sich in der Bibel jedenfalls nichts davon. «Nein», sagte Rudolf Steiner, «eine Lehre des Christentums ist die Wiederverkörperung nicht. Sie ist eine Tatsache, die sich eben der okkulten Forschung ergibt. Das muß man hinnehmen, wie es ist.» Wieder dieselbe lässige Abwehr. Plötzlich fing er an: «Warum sagen Sie eigentlich, daß Sie für okkulte Dinge nicht begabt seien? Ich wollte es vorhin schon sagen. Sie sind ganz gut dafür begabt.» Und nun kamen gleich vier Ratschläge für okkulte Übungen, als Antwort auf meine Frage nach der Weiterentwickung des Menschen, Ratschläge, die mir allerdings sonderbar genug vorkamen. «Das ist Ihnen fremd. Aber es ist schon richtig».

Als ich wieder auf der Straße stand, fragte ich mich: Was will eigentlich dieser Mann? Hat er einen Versuch gemacht, dich zum Anhänger zu gewinnen? Ich überdachte alles und mußte mir sagen: Nein, nicht den geringsten. Aber die Übungen? Trittst du damit nicht ein in eine undurchschaute Welt? Begibst du dich nicht in Abhängigkeit von einem andern? Gibt es nicht Suggestion? Magie? Vielleicht ist dies gerade der gefährliche Versuch, dich in Gefolgschaft zu bringen! Einen ganzen Monat etwa bin ich nicht an die Übungen herangegangen. Dann siegte ein gewisses Pflichtgefühl. Du wirst nie über diese Dinge urteilen können, wenn du sie nicht kennst, sagte ich mir. Und die Menschheit, nicht so sehr dein eigenes Interesse, als die Menschheit verlangt heute von dir, daß du nicht an ihnen vorübergehst. Hast du nicht über die Weiterentwicklung des Menschen eigene Erfahrungen sammeln wollen? Und hat nicht Rudolf Steiner gleich gesehen, daß du nur auf diesem Wege überzeugt werden kannst? Bist du nicht alt genug, um dich sicher fühlen zu dürfen, wenn du vorsichtige Schritte tust? Du wirst allerdings nichts tun dürfen, was du nicht durchschaust. Du wirst keine Übung machen dürfen, ohne ihren Sinn und ihre Notwendigkeit aus dem eignen Leben heraus gefunden und ergriffen, ohne sie ganz mit deinen eignen Gedanken durchdrungen zu haben. Du wirst also dir alles ganz auf deine eigne Weise aneignen. [1]

Ein groteskes Vorkommnis mag Dr. Steiner von einer andern Seite zeigen. Eines Tages erhielt ich in Dornach den Besuch eines rührigen Schweizer Theologen, der sich auch um Anthroposophie interessierte und Dr. Steiner zu sprechen wünschte. «Er kann mit Ihnen ins Atelier kommen; da will ich ihm dann auch die Christusbüste zeigen.» Als Dr. Steiner uns empfangen hatte und die Hülle von der Plastik wegnahm, da ergriff nach einem Augenblick des Schweigens der neue Gast das Wort. «Ich finde eine Ähnlichkeit mit dem deutschen Kronprinzen», sagte er gutmütig. Donnerwetter! dachte ich. Jetzt bin ich aber gespannt, wie das Dr. Steiner aufnimmt! Mit einer rührenden Selbstlosigkeit und Nachsicht kam es von seinen Lippen: «Soo? Finden Sie? Worin finden Sie die Ähnlichkeit?» Ruhig und freundlich ging das Gespräch seinem natürlichen Ende entgegen. Dr. Steiner konnte in solchen Augenblicken, wo ihm weiteres Reden aussichtslos erschien, so etwas wie eine Tarnkappe aufsetzen. Er war dann äußerlich liebenswürdig da, aber wohnte mit seinem eigentlichen Wesen ganz im Verborgenen, wohin man nicht eintreten konnte. Der Theologe hatte gewiß geglaubt, mit seinem Vergleich uns Deutschen etwas recht Angenehmes zu sagen. Ich habe nie mit Dr. Steiner über dies Vorkommnis gesprochen. Aber er hat auch nie wieder nach diesem Theologen gefragt. [2]

Zitate:

[1]  Ri, Seite 28uf   (Ausgabe 1928, 0 Seiten)
[2]  Ri, Seite 75f   (Ausgabe 1928, 0 Seiten)

Quellen:

Ri:  Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner (1928)