Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Reinkarnation und Karma

So werden die seelischen Erlebnisse dauernd nicht nur innerhalb der Grenzen von Geburt und Tod, sondern über den Tod hinaus bewahrt. Aber nicht nur dem Geiste, der in ihr aufleuchtet, prägt die Seele ihre Erlebnisse ein, sondern auch der äußeren Welt durch die Tat. Was der Mensch gestern verrichtet hat, ist heute noch in seiner Wirkung vorhanden. Ein Bild des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung in dieser Richtung gibt das Gleichnis von Schlaf und Tod. – Oft ist der Schlaf der jüngere Bruder des Todes genannt worden. Ich stehe des Morgens auf. Meine fortlaufende Tätigkeit war durch die Nacht unterbrochen. Es ist nun unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht möglich, daß ich des Morgens meine Tätigkeit in beliebiger Weise wieder aufnehme. Ich muß an mein Tun von gestern anknüpfen, wenn Ordnung und Zusammenhang in meinem Leben sein soll. Meine Taten von gestern sind die Vorbedingungen derjenigen, die mir heute obliegen. Ich habe mir mit dem, was ich gestern vollbracht habe, für heute mein Schicksal geschaffen. Ich habe mich eine Weile von meiner Tätigkeit getrennt; aber diese Tätigkeit gehört zu mir und sie zieht mich wieder zu sich, nachdem ich mich eine Weile von ihr zurückgezogen habe. Meine Vergangenheit bleibt mit mir verbunden; sie lebt in meiner Gegenwart weiter und wird mir in meine Zukunft folgen. Ebensowenig wie der Mensch am Morgen neu geschaffen ist, ebensowenig ist es der Menschengeist, wenn er seinen irdischen Lebensweg beginnt. [1] Aber (auch) die physische Welt, die der Menschengeist betritt ist ihm kein fremder Schauplatz. In ihr sind die Spuren seiner Taten eingeprägt. Es gehört von diesem Schauplatz etwas zu ihm. Das trägt das Gepräge seines Wesens. Es ist verwandt mit ihm. Wie die Seele einst die Eindrücke der Außenwelt ihm übermittelt hat, auf daß sie ihm dauernd werden, so hat sie, als sein Organ, die ihr von ihm verliehenen Fähigkeiten in Taten umgesetzt, die in ihren Wirkungen ebenfalls dauernd sind. Dadurch ist die Seele in diese Taten tatsächlich eingeflossen. In den Wirkungen seiner Taten lebt des Menschen Seele ein zweites selbständiges Leben weiter. Dies aber kann die Veranlassung dazu geben, das Leben daraufhin anzusehen, wie die Schicksalsvorgänge in dieses Leben eintreten. Etwas stößt dem Menschen zu. Er ist wohl zunächst geneigt, ein solch «Zustoßendes» wie ein «zufällig» in sein Leben Eintretendes zu betrachten. Allein er kann gewahr werden, wie er selbst das Ergebnis solcher «Zufälle» ist. Wer sich in seinem vierzigsten Lebensjahre betrachtet und mit der Frage nach seinem Seelenwesen nicht bei einer wesenlos abstrakten Ich-Vorstellung stehenbleiben will, der darf sich sagen: ich bin ja gar nichts anderes, als was ich geworden bin durch dasjenige, was mir bis heute schicksalsmäßig «zugestoßen» ist. Er wird dann sein Ich nicht nur in seinen von «innen» kommenden Entwickelungsimpulsen suchen, sondern in dem, was «von außen» gestaltend in sein Leben eingreift. In dem, was «ihm geschieht», wird er das eigene Ich erkennen. Gibt man sich solch einer Erkenntnis unbefangen hin, dann ist nur ein weiterer Schritt wirklich intimer Beobachtung des Lebens dazu nötig, um in dem, was einem durch gewisse Schicksalserlebnisse zufließt, etwas zu sehen, was das Ich von außen so ergreift, wie die Erinnerung von innen wirkt, um ein vergangenes Erlebnis wieder aufleuchten zu lassen. Man kann sich so geeignet dazu machen, in dem Schicksalserlebnis wahrzunehmen, wie eine frühere Tat der Seele den Weg zu dem Ich nimmt, so wie in der Erinnerung ein früheres Erlebnis den Weg zur Vorstellung nimmt, wenn eine äußere Veranlassung dazu da ist. Innerhalb des einzelnen Erdenlebens ist für gewisse Tatfolgen ein solches Treffen deshalb ausgeschlossen, weil dieses Erdenleben dazu veranlagt war, die Tat zu vollbringen. Da liegt in dem Vollbringen das Erleben. Eine gewisse Folge der Tat kann da die Seele so wenig treffen, wie man sich an ein Erlebnis erinnern kann, in dem man noch darinnen steht. Es kann sich in dieser Beziehung nur handeln um ein Erleben von Tatfolgen, welche das Ich nicht mit den Anlagen treffen, die es in dem Erdenleben hat, aus dem heraus es die Tat verrichtet. Es kann der Blick nur auf Tatfolgen aus anderen Erdenleben sich richten. So kann man – sobald man empfindet: was als Schicksalserlebnis scheinbar einem «zustößt», ist verbunden mit dem Ich, wie das, was «aus dem Innern» dieses Ich selbst sich bildet – nur denken, man habe es in einem solchen Schicksalserlebnis mit Tatfolgen aus früheren Erdenleben zu tun. Man sieht, zu der (nur) für das gewöhnliche Bewußtsein (des heutigen europäischen Menschen) paradoxen Annahme, die Schicksalserlebnisse eines Erdenlebens hängen mit den Taten vorangehender Erdenleben zusammen, wird man durch eine intime, vom Denken geleitete Lebenserfassung geführt. Diese Vorstellung kann nur durch die übersinnliche Erkenntnis ihren Vollgehalt bekommen: ohne diese bleibt sie silhouettenhaft. [2]

Daß ich am Morgen die Lage vorfinde, die ich am vorhergehenden Tage selbst geschaffen, dafür sorgt der unmittelbare Gang der Ereignisse. Daß ich, wenn ich mich wieder verkörpere, eine Umwelt vorfinde, die dem Ergebnis meiner Taten aus dem vorhergehenden Leben entspricht, dafür sorgt die Verwandtschaft meines wieder verkörperten Geistes mit den Dingen der Umwelt. Der physische Leib unterliegt den Gesetzen der Vererbung. Der Menschengeist dagegen muß sich immer wieder und wieder verkörpern; und sein Gesetz besteht darin, daß er die Früchte der vorigen Leben in die folgenden hinübernimmt. Die Seele lebt in der Gegenwart. Aber dieses Leben in der Gegenwart ist nicht unabhängig von den vorhergehenden Leben. Der sich verkörpernde Geist bringt ja aus seinen vorigen Verkörperungen sein Schicksal mit. Und dieses Schicksal bestimmt das Leben. Welche Eindrücke die Seele wird haben können, welche Wünsche ihr werden befriedigt werden können, welche Freuden und Leiden ihr erwachsen, mit welchen Menschen sie zusammenkommen wird: das hängt davon ab, wie die Taten in den vorhergehenden Verkörperungen des Geistes waren. Menschen, mit welchen die Seele in einem Leben verbunden war, wird sie in einem folgenden wiederfinden müssen, weil die Taten, welche zwischen ihnen gewesen sind, ihre Folgen haben müssen. Wie die eine Seele, werden auch die mit dieser verbundenen in derselben Zeit ihre Wiederverkörperung anstreben. Man nennt dieses von dem Menschen geschaffene Schicksal mit einem alten Ausdrucke sein Karma. Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben. – Man kann demnach das Verhältnis von Geist, Seele und Körper auch so ausdrücken: Unvergänglich ist der Geist; Geburt und Tod walten nach den Gesetzen der physischen Welt in der Körperlichkeit; das Seelenleben, das dem Schicksal unterliegt, vermittelt den Zusammenhang von beiden während des irdischen Lebenslaufes. Alle weiteren Erkenntnisse über das Wesen des Menschen setzen die Bekanntschaft mit den «drei Welten» selbst voraus, denen er angehört. Von diesen soll das Folgende handeln. [3]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 80f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 82ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[3]  GA 9, Seite 87f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)