Verstand

Vernünftige Wirkung, Verstandeswirkung, Klugheit, ist nicht bloß im menschlichen Bewußtsein vorhanden, sondern überall. Wir sind umgeben von wirksamer Verstandestätigkeit, wie wir umgeben sind von der Luft; also ganz eingesponnen ist der Mensch in wirksame Verstandestätigkeit, und die anderen Wesen auch. [1] Man kann sagen, in die Menschheitsentwickelung trat der Verstand als Fähigkeit erst um die Mitte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts ein. [2] Vom 15. Jahrhundert ab ist der Mensch, indem er nachdenkt, nicht mehr bewußt, daß da Kräfte in ihm wirken; er fühlt sich nicht mehr vom Verstande besessen, fühlt sich durchaus als die Wesenheit, die das Verständige selber hervorbringt. Wir haben eigentlich den Verstand nicht mehr als eine reale Macht, sondern nur als das, was uns die Bilder der Außenwelt liefert, Bilder, Schatten dessen, was der Verstand früher war. Das, was da herauf gezogen ist, das ist das Charakteristische des neuen Zeitalters. [3]

Mit dem Entfremden des Menschen von sich selbst kam dann das Anklammern des Menschen an den äußeren Verstand, der heute alles beherrscht. Dieser äußere Verstand, ist er denn menschliches Erlebnis? Er ist nicht menschliches Erlebnis. Denn wäre er (ein) menschliches Erlebnis, so könnte er nicht in so äußerlicher Weise innerhalb der Menschheit leben, in der er lebt. Der Verstand ist im Grunde genommen gar nicht verbunden mit dem einzelnen Persönlichen, mit dem einzelnen individuellen Menschen, der Verstand ist ja fast etwas Konventionelles. Er sprudelt nicht hervor aus innerem menschlichen Erlebnis. Er tritt eigentlich als etwas Äußerliches an den Menschen heran. [4] Der Verstand ist überall ausgebreitet. Man findet ihn überall. Und beim Menschen ist es natürlich nur so, daß er den Verstand, der überall ausgebreitet ist, zusammenhäuft und dann ihn gebraucht. Und dadurch, daß er das ausgebildete Gehirn hat, dadurch kann er dasjenige, was überall in der Welt ausgebreitet ist, für sich gebrauchen. [5] Sie können, wenn Sie die Natur wirklich studieren, überall diesen waltenden Verstand finden. Und über Ihren eigenen Verstand werden Sie dann bescheidener denken, denn der ist erstens nicht so groß wie der Verstand, der da in der Natur waltet, zweitens aber ist er nur so etwas wie ein bißchen Wasser, das man aus einem See geschöpft und in eine Kanne getan hat. Der Mensch ist nämlich in Wirklichkeit eine solche Kanne, die den Verstand der Natur auffasst. In der Natur ist überall Verstand, alles ist überall Weisheit. Derjenige, der nur dem Menschen für sich selber Verstand zuschreibt, ist ungefähr so gescheit wie einer, der da sagt: In dem See draußen oder in dem Bach soll Wasser sein? Das ist Unsinn, da ist kein Wasser drinnen. In meiner Kanne allein ist Wasser, die Kanne hat das Wasser hervorgebracht. – So denkt der Mensch, er bringe den Verstand hervor, während er ihn nur aus dem allgemeinen Meere des Verstandes schöpft. [6]

Die älteren Griechen hatten ja durchaus diese freie Hingabe der Seele an die äußere Umgebung, und mit diesem freien Hingeben der Seele an die äußere Umgebung war eben verknüpft ein Wahrnehmen des Elementar-Geistigen in den äußeren Erscheinungen. Aber es entwickelte sich dann bei den Griechen dasjenige heraus, was die griechischen Philosophen «Nus» nennen, was ein allgemeiner Weltverstand ist und dann eigentlich überhaupt die Grundeigenschaft der menschlichen Seelenentwickelungen bis ins 15. Jahrhundert hinein geblieben ist, im 4. nachchristlichen Jahrhundert eine Art Höhepunkt erlebte und dann wieder abflutete. Wenn wir in diesem Zeitalter von «Verstand» sprechen, so müssen wir absehen von dem, was wir jetzt in unserem Zeitalter eigentlich als Verstand ansprechen. Für uns ist der Verstand etwas, was wir eigentlich nur in uns tragen, was wir in uns entwickeln und wodurch wir die Welt begreifen. So war es nicht bei den Griechen. Der Verstand war ein Objektives, der Verstand war etwas, was die Welt erfüllte. Der Verstand wurde als ein einziger, die ganze Welt umfassender angesehen; und dadurch entwickelte sich auch eigentlich erst der monotheistische Charakter der Religion, der allerdings schon im 3. nachatlantischen Zeitalter seine Vorstufe hatte. [7] Und wenn Sie nur einmal mit völliger Unbefangenheit hinschauen auf die Welterscheinungen, so werden Sie sich sagen: Was Ihr Verstand zuletzt in sich findet auf aktive Art, das ist ja nun verwirklicht in den Welterscheinungen. Der Verstand ist ja drinnen in den Welterscheinungen. Nun, die Kräfte, die dieses Verständige im Weltenall darstellen, das dann mit uns als unsere Verstandesanlagen, als unsere Klugheit geboren ist, das ist das Merkurhafte im Weltenall. [8]

Zitate:

[1]  GA 178, Seite 150f   (Ausgabe 1980, 248 Seiten)
[2]  GA 325, Seite 121   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[3]  GA 325, Seite 134   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[4]  GA 233a, Seite 64   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[5]  GA 348, Seite 205   (Ausgabe 1983, 348 Seiten)
[6]  GA 220, Seite 142   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)
[7]  GA 204, Seite 167ff   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[8]  GA 213, Seite 70f   (Ausgabe 1969, 251 Seiten)

Quellen:

GA 178:  Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen (1917)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 213:  Menschenfragen und Weltenantworten (1922)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)
GA 233a:  Mysterienstätten des Mittelalters. Rosenkreuzertum und modernes Einweihungsprinzip - Das Osterfest als ein Stück Mysteriengeschichte der Menschheit (1924)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)
GA 348:  Über Gesundheit und Krankheit. Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen Sinneslehre (1922/1923)