Vatergott

Der höchstentwickelte Saturngeist ist der Vatergott. [1] Wir tragen in uns die Wirkungen jener Geister des Ich, die den guten Weg eingeschlagen haben, in dem Streben nach Freiheit und Menschenwürde, und wir tragen den Keim des Bösen in uns, weil fortgewirkt haben die damals (auf dem Saturn) abgefallenen Wesenheiten. Diesen Gegensatz hat man immer empfunden. Das Christentum selbst unterscheidet zwischen dem Vatergott, den das Christentum ansieht, als den höchstgestiegenen Geist des Saturn, und seinem Widersacher, dem Geist aller bösen Iche und alles radikal Unmoralischen, der damals auf dem Saturn abgefallen ist. Das sind die beiden Repräsentanten des Saturn. [2]

Wenn wir mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, das uns die intellektualistischen Begriffe liefert, die Welt erkennen, so erkennen wir eigentlich nur das Vergehende, nur die Vergangenheit. Und wenn wir dann recht anschauen, was uns unser Intellekt liefern kann, so ist es im Grunde genommen der Rückblick auf die vergehende Welt. Aber wir können mit dem, was ich angedeutet habe, den Vatergott finden. Welches Bewußtsein entwickeln wir also dem Vatergotte gegenüber? Das Bewußtsein, daß der Vatergott einer Welt zugrunde liegt, deren Vergehen sich in unserer Intellektualität ankündigt. Der Vatergott liegt der Welt zugrunde, die ich durch die Sinne sehen kann. Sie ist seine Offenbarung. Aber sie ist eine untergehende Welt, und sie wird in diesen Untergang auch den Menschen mitreißen, wenn der Mensch ganz aufgehen würde in ihr, wenn nur das Bewußtsein des Vatergottes entwickelt werden könnte. Der Mensch würde zurückkehren zum Vatergotte; er würde keine Fortentwickelung haben können. Da ist aber eine aufgehende Welt, die zunächst eben gerade durch den Menschen da ist. Adelt der Mensch seine sittlichen Ideale durch das Christus-Bewußtsein, durch den Christus-Impuls, gestaltet er seine sittlichen Ideale so, daß sie sind, wie sie sein sollten, dadurch, daß der Christus auf die Erde gekommen ist, dann lebt in seinem Chaos keimend in die Zukunft hinein, was nun nicht eine untergehende, was eine aufgehende Welt ist. [3]

Alle Philosophie hat das Eigentümliche, daß sie am Gedankenfaden fortgeht, ein Glied aus dem anderen entwickelt, also gleichsam in dem Vorderen schon das Nachfolgende sucht. So haben sie recht als Philosophien. Aber man kommt dabei niemals auf dasjenige Verhältnis, welches sich ergibt, wenn man berücksichtigt, daß die Ursache gar nicht zu verursachen braucht. Die Ursache kann ihrem Wesen nach, in ihrem Wesen dasselbe sein, ob sie als Ursache etwas verursacht oder nicht. Das ändert nichts in dem Wesen der Ursache. Und dieses Bedeutungsvolle ist uns hingestellt in dem Symbolum von Gottvater und Gottsohn: daß der Christus hinzukommt als eine freie Schöpfung zu dem Vatergott, als eine Schöpfung, die nicht unmittelbar aus ihm folgt, sondern die sich als freie Tat neben die vorhergehende Schöpfung hinstellt; die auch die Möglichkeit hätte, nicht zu sein; die der Welt also nicht deshalb gegeben ist, weil der Vater den Sohn der Welt geben mußte, sondern der Sohn ist der Welt gegeben als eine freie Tat, durch Gnade, durch Freiheit, durch Liebe, die sich frei gibt in ihrer Schöpfung. Deshalb kann man niemals durch dieselbe Art von Wahrheit, durch die man zu dem Vatergott kommt wie die Philosophen, auch zum Sohnesgott, zu dem Christus kommen. Um zum Christus zu kommen, ist notwendig, daß man zu der philosophischen Wahrheit die Glaubenswahrheit hinzufügt, oder – weil die Zeit des Glaubens immer mehr und mehr abnimmt die andere Wahrheit hinzunimmt, die durch hellseherische Forschung kommt, die sich als eine freie Tat ebenfalls erst in der menschlichen Seele entwickeln muß. [4]

Der Westen ist in der Lage, in einer dem neueren Menschengeiste angemessenen Form wiederum eine solche Vorstellung, eine solche Empfindung vom Vatergotte zu erlangen, neben welcher die andern göttlich-geistigen Wesenhaftigkeiten des Sohnes und des Geistes stehen können. Aber vor allen Dingen ist es die Aufgabe des Westens, jenen Beitrag zu liefern, der die Vorstellungen, die Empfindungen über den Vatergott in anderer Weise hinzufügt, als das frühere Zeiten gekonnt haben, die nur Ahnungen in dieser Beziehung erweckt haben. [5]

Zitate:

[1]  GA 99, Seite 98   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[2]  GA 100, Seite 113f   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[3]  GA 207, Seite 40ff   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[4]  GA 153, Seite 140   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[5]  GA 210, Seite 28   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)

Quellen:

GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 207:  Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil:. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich (1921)
GA 210:  Alte und neue Einweihungsmethoden. Drama und Dichtung im Bewußtseins-Umschwung der Neuzeit (1922)