Wort unaussprechliches

Ganz leise, zunächst kaum wahrnehmbar, tritt das zweite Erlebnis (nach dem unoffenbaren Licht) auf. Es tritt so auf, daß es in der Tat viele Hellseher gibt, die das erste Erlebnis schon lange haben und bezüglich des zweiten kaum verstehen, was es ist. Es tritt auch das auf, was wir bezeichnen können etwa in der folgenden Weise: Während das flutende Licht etwas ist, was uns so vorkommt, als ob wir in demselben auseinanderfließen würden, als ob wir uns verbreiten würden in dem Weltenraume, erscheint uns das, was das unaussprechliche Wort genannt werden kann, im Beginne so, wie wenn gleichsam von allen Seiten uns etwas entgegenkäme. In demselben Maße, in dem wir uns verbreiten über die ganze Welt, ist es so, als ob uns etwas entgegenkäme, als ob etwas von allen Seiten sich uns näherte, während wir auf der anderen Seite zerfließen. Und in der Tat, dieses Zerfließen ist für den Menschen, der es erlebt und sich noch nicht so recht hineinfinden kann, mit argen Furchtzuständen begleitet. Es kommt uns gleichsam von außen etwas wie eine Weltenhaut entgegen, die sich uns nähert, und wir können nicht anders sagen als: Dieses Annähern einer Weltenhaut ist so, wie wenn zunächst in einer uns schwer verständlichen Sprache, die nirgends auf der Erde gesprochen wird, zu uns gesprochen würde; in einer Weise, daß kein Wort sich damit vergleichen läßt, das durch einen Kehlkopf gegangen ist. Aber wenn wir vom Worte alles dasjenige wegnehmen, was als äußerer Laut damit verknüpft ist, dann bekommen wir allmählich eine Vorstellung davon, was uns da als sinnvolles Weltentönen entgegenrückt von allen Seiten. Schwach ist es anfangs, und nur mit zunehmender Kraft des okkulten Lernens und der okkulten Selbstzucht wird dieses Wahrnehmen einer geistigen Welt stärker und stärker. Wir haben dann als Hellseher ein sehr merkwürdiges Gefühl, wenn wir so herankommen sehen von allen Seiten etwas wie eine Weltenhaut; nicht wie eine äußere Weltenhaut, sondern etwas, was wie Töne herandringt. Dann haben wir eine sehr eigentümliche Empfindung; und daß wir diese haben, ist ein Zeichen, daß wir auf dem richtigen Wege sind. Wir haben die Empfindung: Ja, eigentlich ist das erst unser eigenes Selbst, eigentlich ist das erst der richtige Mensch, der uns da entgegenkommt. Wir sind nur scheinbar in die Haut eingeschlossen, wenn wir im physischen Leibe leben. In Wahrheit füllt unser ganzes Wesen die Welt aus und es kommt uns entgegen, wenn wir in der geschilderten Weise in den okkulten Zustand übergehen. Das ist es, was wir erleben, und wir verbinden damit einen bestimmten Begriff, weil es uns wie sinnvolle Worte entgegenkommt, die nur geistig zu uns tönen, den Begriff «unaussprechliches Wort», «unaussprechliche Sprache». Man kann lange Zeit als Hellseher das geistige Licht wahrnehmen, wenn man aus seinem Gehirn seine höheren Leibesglieder herausgequetscht hat. Wenn aber noch mit dem Herzen fest verbunden bleiben diese höheren Leibesglieder wie im gewöhnlichen Leben, dann hat man es mit Hellsehern zu tun, die da sehen mit ihren vom Gehirn frei gewordenen Seelenkräften das flutende Licht, die aber nicht das von allen Seiten herankommende unaussprechliche Wort vernehmen können. Das fangen sie erst an zu hören, wenn die höheren übersinnlichen Menschenkräfte auch aus dem Herzen herausgequetscht sind. Das was das Herz befähigt, herauszuquetschen diese höheren übersinnlichen Glieder, so daß der Mensch lernt, ein Seelenleben zu entfalten, das nicht an das Instrument seines Herzens gebunden ist, das hängt mit einem höheren Herzensorganismus zusammen. Wenn der Mensch lernt, mit seiner Seele zu erleben seine Herzenskräfte, die höher sind als die, welche an das physische Herz gebunden sind, dann lernt er dasjenige wirklich kennen, was um ihn herum sich geltend macht wie ein von allen Seiten herankommendes unaussprechliches Wort. [1]

Zitate:

[1]  GA 137, Seite 58ff   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)

Quellen:

GA 137:  Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (1912)