Wissenschaft – Aufgabe der Wissenschaft

Wäre nun das wahrgenommene Weltbild ein solches, daß es so, wie es für unsere Sinne vor uns auftritt, sich ungetrübt seiner Wesenheit nach auslebte, mit anderen Worten, wäre alles, was in der Erscheinung auftritt, ein vollkommener, durch nichts gestörter Abdruck der inneren Wesenheit der Dinge, dann wäre Wissenschaft die unnötigste Sache von der Welt. Denn die Aufgabe der Erkenntnis wäre schon in der Wahrnehmung voll und restlos erfüllt. Ja, wir könnten dann überhaupt gar nicht zwischen Wesen und Erscheinung unterscheiden. Beides fiele als identisch völlig zusammen. Das ist aber nicht der Fall. Wir müssen zwischen notwendigen und zufälligen Bedingungen einer Erscheinung unterscheiden. Phänomene nun, die so entstehen, daß dabei nur die notwendigen Bedingungen mitwirken, können wir ursprüngliche, die anderen abgeleitete nennen. Wenn wir die ursprünglichen Phänomene aus ihren Bedingungen verstehen, dann können wir durch Hinzusetzung von neuen Bedingungen die abgeleiteten ebenfalls verstehen. Hier wird uns die Aufgabe der Wissenschaft klar. Sie hat durch die phänomenale Welt so weit durchzudringen, daß sie Erscheinungen aufsucht, die nur von notwendigen Bedingungen abhängig sind. Und der sprachlich-begriffliche Ausdruck für solche notwendige Zusammenhänge sind die Naturgesetze. [1] Wenn man einer Sphäre von Erscheinungen gegenübertritt, dann hat man also, sobald man über die bloße Beschreibung und Registrierung hinaus ist, zunächst diejenigen Elemente festzustellen, die einander notwendig bedingen und sie als Urphänomene hinzustellen. Die Wissenschaft hat nie und nimmer etwas zur Erscheinungswelt hinzuzubringen, sondern nur die verhüllten Bezüge derselben bloßzulegen. Aller Verstandesgebrauch darf sich nur auf die letztere Arbeit beschränken. Durch Zurückgehen auf ein Nicht-Erscheinendes, um die Erscheinungen zu erklären, überschreitet der Verstand und alles wissenschaftliche Treiben ihre Befugnis. [2]

Wir mögen den Blick hinauswenden zunächst naiv auf unsere Umgebung. Wenn wir aber dabei bleiben, das Auge bloß auf die äußeren Eindrücke zu richten, dann tun wir nicht unsere Schuldigkeit. Wir tun sie nur dann, wenn wir uns bewußt sind, daß wir die äußeren Eindrücke beziehen müssen auf hinter ihnen stehende geistige Mächte. Wenn wir Wissenschaft treiben und machen es so wie die Gelehrsamkeit, dann tun wir nicht unsere Schuldigkeit. Wir müssen alles das, was wir erfahren können über die Gesetze der Naturerscheinungen, über die Gesetze der Seelenerscheinungen so betrachten, daß wir es wie eine Sprache anschauen, die uns hinaufführen soll in eine göttlich-geistige Offenbarung. Wenn wir das Bewußtsein haben, daß wir alle physikalischen, chemischen, biologischen, physiologischen, psychologischen Gesetze so betrachten sollen, daß wir sie auf etwas Geistiges beziehen, was sich uns offenbart, dann tun wir unsere Schuldigkeit. [3]

Zitate:

[1]  GA 1, Seite 275f   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[2]  GA 1, Seite 277   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[3]  GA 126, Seite 56   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)