Stottern

Wenn ein Kind für seine Verhältnisse zuviel schläft, dann entwickelt sich – ich will Beispiele anführen –, es entwickelt sich in seiner Betätigung der Beine eine Art inneres Ansichhalten. Das Kind wird innerlich unwillig zu gehen, wenn es zuviel schläft. Es wird gewissermaßen träge in bezug auf das Gehen, und es wird dadurch auch träge in bezug auf das Sprechen. Das Kind entwickelt nicht die ordentliche Aufeinanderfolge, der Zeit nach, im Sprechen. Es spricht langsamer, als es nach seiner Organisation eigentlich sprechen sollte. Wenn wir dann im späteren Leben einem Menschen begegnen, bei dem das durch die Schule nicht ausgeglichen worden ist, so werden wir manchmal verzweifeln, weil er uns immer zwischen zwei Worten die Gelegenheit gibt,– nun, einen kleinen Spaziergang zu machen. Solche Menschen gibt es ja, die von einem Wort zum andern nur sehr schwer hinüberfinden. Wenn wir zurückschauen in seine Kindheit, und wir werden finden: den haben seine Erzieher oder seine Eltern zuviel schlafen lassen in der Zeit, in der sich gerade das Gehen ausgebildet hat. – Aber nehmen wir an, das Kind schläft zuwenig; es wird also nicht in der richtigen Weise dafür gesorgt, daß das Kind seinen, für das Kind notwendigen, verhältnismäßig langen Schlaf hat. Dann bildet sich das im Innern so eigentümlich aus, daß das Kind seine Beine nicht ganz in seiner Gewalt hat. Statt zu gehen, schlenkert es. Statt die Worte wirklich mit der Seele in ihrer Aufeinanderfolge zu beherrschen, entfallen sie ihm; die Sätze werden so, daß die Worte auseinanderfallen. Es ist das etwas anderes wie das Nichtfinden des Wortes; da hat man zuviel Kraft, man kann nicht an das nächste Wort heran. Bei dem, was ich jetzt meine, hat man zuwenig Kraft; das nächste Wort wird gewissermaßen nicht mit dem fortlaufenden Strom der Seele erfaßt, sondern man wartet und will in das nächste Wort einschnappen. Und wenn das zum besonderen Extrem führt, dann drückt sich das in einer stotternden Sprache aus. Wenn man bei Menschen Anlagen zum Stottern findet, namentlich so in den Zwanziger-, Dreißigerjahren, dann kann man sicher sein: diese Kinder sind, während sie sprechen gelernt haben, nicht in der richtigen Weise angehalten worden, genügend zu schlafen. [1] Der Stotterer hat eigentlich in sich eine organisch gewordene Angst, die ihn immer nach Luft schnappen läßt. [2] Weiteres und zur Therapie am Ende des Artikels über: Sprachstörungen.

Zitate:

[1]  GA 306, Seite 40f   (Ausgabe 1956, 214 Seiten)
[2]  GA 282, Seite 361   (Ausgabe 1926, 414 Seiten)

Quellen:

GA 282:  Sprachgestaltung und Dramatische Kunst.. Dramatischer Kurs (1924)
GA 306:  Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen (1923)