Sonnenmysterien

Wenn man in den alten Tagen, da unsere Einweihungsstätten gestanden haben innerhalb der chaldäischen, innerhalb der ägyptischen Kultur von jener Wesenheit, die das Hohe Sonnenwesen darstellt, sprach und man wissen wollte, was dieses Hohe Sonnenwesen zu sagen hatte den irdischen Menschen, dann bildete man sich über diese Sprache des Hohen Sonnenwesens auf die folgende Weise eine Ansicht. Man beobachtete das Sonnenlicht in seiner Geistigkeit nicht direkt; man beobachtete das Sonnenlicht in der Art, wie es vom Monde zurückgestrahlt wird. Indem man den Blick hinaufwendete zum Monde, sah man mit Hilfe des alten hellseherischen Seelenblickes mit dem Heranfluten des Mondenlichtes die Offenbarung des Geistes des Weltenalls. Und in einer mehr äußerlichen Weise ergab sich der Sinn dieser Offenbarung, indem man die Konstellation des Mondes in bezug auf die Fixsternbilder und in bezug auf die Planeten beobachtete. Und aus dem Verhältnis, wie die Sternbilder und Sterne zueinander standen, namentlich wie sie orientiert wurden durch das flutende Mondenlicht, las man ab, was der Himmel der Erde zu sagen hatte. Man brachte das in Worte. Und nach dem Sinne dessen, was da in Worte gebracht wurde, suchten die alten Eingeweihten. Sie suchten, was jenes Wesen, das später der Christus genannt wurde, dem irdischen Menschen zu sagen hatte. Auf das sehen jene alten Eingeweihten hin, was die Sterne im Verhältnisse zum Monde dem irdischen Leben sagen konnten. Aber nun, als das Mysterium von Golgatha herannahte, da ging, möchte ich sagen, eine große geistig-seelische Metamorphose durch alles Mysterienwesen. Da sagten die Ältesten dieser Eingeweihten zu ihren Schülern: Jetzt kommt eine Zeit, wo fortan nicht mehr die Sternenkonstellationen auf das flutende Mondenlicht bezogen werden dürfen. Das Weltenall spricht anders zu den irdischen Menschen in der Zukunft. Es muß das Licht der Sonne direkt beobachtet werden. Und so kamen sie auf die kosmische Bedeutung der Geburt Jesu. Diese sahen sie an als etwas, was von der Erde aus den Impuls gab, fortan nicht mehr den Mond zum universalen Regenten der Himmelserscheinungen zu machen, sondern die Sonne selber. [1] Nicht immer waren Bekenner und Vertreter des christlichen Impulses so feindlich gesinnt dem Erkennen dieses Zusammenhanges zwischen dem Sonnenmysterium und dem Christus-Mysterium, wie das die heutigen, in die Dekadenz gekommenen Vertreter des Christentums oftmals sind. Dionysius der Areopagite nennt die Sonne das Denkmal des Gottes. Und bei Augustinus finden wir durchaus noch überall Hinweise, selbst in der Scholastik finden wir noch Hinweise darauf, wie in den äußeren Gestirnen und ihren Bewegungen Bildhaftes zu sehen ist für das geistig-göttliche Dasein in der Welt. [2]

In älteren Zeiten und für den wirklichen Weltanschauer heute noch ist die Sonne ein Geistwesen. Und dieses zentrale Geistwesen empfand die ältere Menschheit als eins mit dem Christus. Mit der äußerlich leuchtenden Sonne empfand der alte Mensch den außerweltlichen Christus. Mit der richtigen Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha erschaut der Mensch innerhalb des geschichtlichen Erdenwerdens die Sonne dieses Erdenwerdens durch den Christus. [3]

Wenn wir in den Weltenraum wie mit dem Auge des alten Zarathustra hinausblicken zur Sonne, dann müssen wir in ihr zunächst ein Überbleibsel der alten Sonne sehen, gleichsam die wiederbelebte alte Sonne, die in der Gegenwart gleichsam nachahmt dasjenige, was auf der alten Sonne war. Wir haben also in der Sonne geheimwissenschaftlich zu sehen den Wohnplatz oder wenigstens einen Teil des Wohnplatzes – unsere übrigen Planeten gehören auch zu diesem Wohnplatz –, aber den wesentlichsten Teil des Wohnplatzes der oberen Göttergestalten. Wenn Sie aber diese ganze Sonne mit hellseherischem Blick anschauen, so ist alles das, was diese oberen Götter sind, nur ätherisch in der Sonne vorhanden, von den Wärmeelementen nach aufwärts nur als Wärme-, als Lichtäther, chemischer und Lebensäther. Aber die Sonne, wie sie heute im Weltenraum draußen schwebt, ist nicht nur für den hellseherischen Blick als ätherische Gestalt da, sondern sie ist als ein Gasball, als ein bis zur Luftigkeit Verdichtetes vorhanden. Die Sonne wäre niemals bis zur Luftsubstanz verdichtet worden, wenn nicht während der alten Sonnenentwickelung jene Wesenheit, die mit der Taube bei der Johannestaufe im Jordan wiederum herunterkam, sich in einem Luftleib und nicht bloß in einem Ätherleib von der Sonne getrennt hätte. Wenn wir also die Sonne ansehen, so müssen wir sagen: Was in der Sonne Wärme-, Licht-, chemische Impulse sind, was Lebensimpulse sind, das hängt zusammen auch mit den anderen Wesenheiten, die nur die Vorstellungen der unteren Göttergestalten sind (siehe dazu: Götter obere und untere). Was in der Sonne gasig ist, ist in der Tat Körper des Christus. Darin wird unsere heutige so materialistische Wissenschaft einmal die alte Zarathustralehre wiederum kennenlernen, wird sich sagen müssen: Die Sonne als Gasball im Weltenraum draußen ist nicht nur dasjenige, was unsere Astro(physik) aus derselben machen will, nicht bloß, was unsere Spektralanalyse entdeckt, sondern die Sonne als Luft- oder Gasball draußen im Weltenraum ist der ursprüngliche Leib des Christus, der im Verein mit den anderen oberen Götter aber eine dem Erdenwesen verwandte Göttergestalt war. [4]

Die Sonne stand (auch) in geistig-spiritueller Beziehung in dem Mittelpunkte des ägyptischen Denkens und Fühlens, aber nicht die äußerlich sinnliche Sonne, die nur als der körperliche Ausdruck des Geistigen angesehen wurde. So wie das Auge der Ausdruck der Sehkraft ist, so war für den Ägypter die Sonne das Auge des Osiris, der Ausdruck, die Verkörperung dessen, was der Geist der Sonne war. [5] In der ägyptisch-chaldäischen Zeit empfand man die Sonne als göttliche Lebensquelle. Die Griechen konnten die Sonne auch nicht mehr als eigentlichen Lebensquell wahrnehmen, sondern sie nahmen die Sonne wahr wie etwas, was sie innerlich durchdringt. Das fühlten sie als das Element des Eros, als das Element der Liebe. [6] Die vierte nachatlantische Epoche, in welche hineinfällt die Verstandesentwickelung der Menschheit, sie wurde aus den griechischen Mysterien heraus geleitet. Erst gaben die Mysterien der allgemeinen Bevölkerung Vorderasiens, des europäischen Südens, dasjenige an, was dieser Verstandes- oder Gemütskultur zugrunde liegt. Es spielte in diesen Mysterien das Geheimnis von dem menschlichen Zusammenleben mit der Sonne eine große Rolle. Wir wissen ja, wie innerhalb der Verstandesseele des Menschen das Ich aufleuchtet, das dann zu seiner vollen inneren Kraft durch die Bewußtseinsseele kommen soll. Insofern nun das Ich des Menschen gewissermaßen zu seiner Erweckung kommen sollte während der Verstandeskulturzeit, mußten sich die Mysterien dieser Zeit beschäftigen mit den Geheimnissen des Sonnenlebens und seinen Zusammenhängen mit demjenigen, was gerade menschliches Ich ist. Die Griechen sahen in dem, was ihnen als Vorstellungsinhalt entgegenglänzte, überall eigentlich das Geschöpf des Sonnenlebens. Sie empfanden, indem die Sonne am Morgen aufging, auch das Heraufkommen des Vorstellungslebens in dem Raum, und beim Untergange der Sonne empfanden sie das Versinken der Vorstellungswelt. [7] Und der Grieche empfand noch richtig, wenn er das, was ihm von der Sonne zustrahlte, als dasjenige empfand, was in Zusammenhang gebracht werden muß mit seiner Ich-Entwickelung. Er sah in dem Sonnenwesen substantiell ein dem Ich verwandtes Wesen, und er fühlte sich veranlaßt, zur Sonne dasselbe zu sagen wie zu seinem Ich, dieselbe Empfindung der Sonne entgegenzubringen, wie er sie seinem Ich entgegenbrachte. Ich und Sonne, sie verhalten sich wie das Innere und das Äußere. Was draußen durch den Weltenraum kreist als Sonne, ist das Welten-Ich. Was drinnen in mir lebt, ist das Ich des Menschen. [8]

Zitate:

[1]  GA 223, Seite 14f   (Ausgabe 1980, 168 Seiten)
[2]  GA 202, Seite 231   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[3]  GA 207, Seite 183   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[4]  GA 129, Seite 193f   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[5]  GA 105, Seite 185f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[6]  GA 208, Seite 168f   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[7]  GA 204, Seite 219f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[8]  GA 204, Seite 222   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)

Quellen:

GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 129:  Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen (1911)
GA 202:  Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 207:  Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil:. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich (1921)
GA 208:  Anthroposophie als Kosmosophie – Zweiter Teil:. Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen (1921)
GA 223:  Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten. Die Anthroposophie und das menschliche Gemüt (1923)