Sonnengeist

Was wir sehen von der Sonne, wenn wir mit dem physischen Auge hinsehen, verhält sich zum Ganzen der Sonne ebenso, wie dasjenige vom Menschen, was wir mit dem physischen Auge sehen, sich verhält zum Ganzen des Menschen. Der Sonnenleib ist der Leib des Sonnengeistes. Und Sonne, Mond und Erde gehören in geistiger Beziehung zusammen, und zwar ist die Sache sehr kompliziert. Es sind mit der Sonne eine ganze Reihe von geistigen Wesenheiten vereinigt, die in der Sonne ihren Leib haben. Wer mit dem okkultistisch geschulten Auge die Vorgänge der Sonnenstrahlen zu uns kommen sieht, der sieht, wie geistige Wesenheiten in der Sonne in Gefühlen überfließen und wie diese Gefühle zur Tat werden. Und ihre Tat ist, was sie niedersenden in den Sonnenstrahlen. Und wenn Sie den Astralleib der Erde beobachten, dann sehen Sie etwas wie Dankbarkeit der ganzen Pflanzenseele, die die Sonnenstrahlen empfängt. Wenn sich die Pflanzen öffnen, so ist das ein seelischer Herzensausdruck für innere seelische Vorgänge der Erde wie für das, was die schöpferisch gebenden Geister der Sonne empfinden. [1]

Der eine Sonnengeist, den wir als den Christus bezeichnen, der hat seinen astralischen Leib in dem Moment, in dem das Blut aus den Wunden des physischen Leibes floß, mit dem der Erde vereinigt. [2] In diesem Zeitpunkt geht der Christus, das Hohe Sonnenwesen, durch das Mysterium von Golgatha und verbindet sich mit dem Erdendasein. Populär ausgedrückt: seit jenem Zeitpunkt ist der Christus auf der Erde. Das Sehen des Sonnengeistes war den Menschen möglich bis zum 4. nachchristlichen Jahrhundert, weil sie bis dahin noch inniger mit ihrem Ätherleib verbunden waren. Wenn nun auch der Christus selbst schon auf Erden war, so sah man doch bis in das 4. Jahrhundert die Sonne so, daß man gewissermaßen noch das Nachbild durch den ätherischen Leib sah. Wie man im Physischen, wenn man auf irgend etwas scharf hinschaut und dann das Auge schließt, ein Nachbild hat im Auge, so hatte der menschliche Ätherleib, indem er die Sonne sah, bei denjenigen Persönlichkeiten, bei denen eben das noch geblieben war, ein Nachbild des Sonnengeistes, wenn der Mensch in den Kosmos hinaussah. Und sie verstanden nicht, was das heißen soll, was die Lehrer und Führer jener anderen Mysterien sagten: der Christus wäre auf der Erde. Ein solcher Mensch, der gar nicht begreifen konnte, warum man den Christus in einem Menschen auf Erden suchen sollte, da er doch in den Himmeln zu suchen ist und in dem Lichte lebt, ein solcher Mensch war eben Julian der Abrünnige, `Julianus Apostata. [3] Der Bekenner zur alten Mysterienweisheit konnte sich sagen: Ich schaue zur Sonne hinauf, aber diese äußere physische Sonne ist nur ein Abbild eines geistigen Sonnenwesens. Dieses geistige Sonnenwesen durchdringt die geistige Welt, aus der ich selber zum irdischen Dasein heruntergestiegen bin, und die Kraft dieses Sonnenwesens hat meiner Seele für das Erdendasein dasjenige mitgegeben, was bewirkt, daß ich unter den Erlebnissen meiner Seele während der Erdenzeit auch das habe, durch das ich im Rückblicken auf mein vorirdisches Dasein des ewigen Wesenskernes in meiner Seele gewiß bin. [4]

Derjenige, der imaginativ und inspiriert vorstellen kann, erlebt (schlafenderweise) einen objektiven Vorgang im astralischen Leibe als Angstzustand, aber dieses, was von der Angst objektiv ist, macht der Mensch jede Nacht wirklich durch, weil er in seiner Seele aufgeteilt wird. Er wird tatsächlich jede Nacht aufgeteilt an die Sternenwelt. Ein Teil unseres Wesens strebt hin nach dem Merkur, ein anderer Teil des Wesens nach dem Jupiter und so weiter. Nur muß ich, um den Vorgang, der sich hier abspielt, ganz richtig zu charakterisieren, sagen, das ist beim gewöhnlichen Schlaf nicht so wie auf dem Wege zwischen Tod und neuer Geburt (siehe: Leben zwischen dem Tod und einer neuer Geburt), wo wir tatsächlich zu den Sternenwelten hinaufdringen, sondern während der Nacht machen wir dieses Aufgeteiltsein durch, indem wir nicht wirklich an die Sterne aufgeteilt werden, sondern an die Nachbilder der Sterne, die wir während unseres Lebens fortwährend in uns tragen. Und diese Ängstlichkeit, die wir da durchmachen, die verhältnismäßig bald nach dem Einschlafen auftritt, kann bei dem Menschen nur behoben werden, wenn seine Zugehörigkeit zum Christus wirklich vorhanden ist. Wenn die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha – wir waren alle in dieser Lage in früheren Erdenleben, diese Menschen sind wir ja selber, wenn die Menschen in früheren Erdenleben in Schlaf versunken sind und die Ängstlichkeit erlebt haben, die ich beschrieben habe, so war immer der Christus in einem Nachbilde der Sternenwelt ebenso vorhanden, wie die Nachbilder der anderen Sterne vorhanden waren. Und der Christus trat so helfend, angstverscheuchend, die Angst also hinwegtreibend, in jedem Schlafzustand an den Menschen heran. In älteren Zeiten hatten die Menschen auch noch im instinktiven Hellsehen durchaus beim Aufwachen eine Art Erinnerung dabei, wie eine traumhafte Erinnerung, daß der Christus während des Schlafes bei ihnen war. Nur nannten sie ihn nicht den Christus. Sie nannten ihn den Sonnengeist. [5]

Dieses ganze Erlebnis der Seele während des Schlafes ist anders geworden für die Menschen nach dem Mysterium von Golgatha. Das Mysterium von Golgatha hat für die Erdenmenschen die Entfaltung des starken Ich-Bewußtseins eingeleitet. Die Menschen hatten in alten Zeiten ein starkes Zusammen-gehörigkeitsgefühl mit dem vorirdischen Dasein, aber sie hatten kein starkes Ich-Bewußtsein. Dieses starke Ich-Bewußtsein macht, daß der Mensch als ein freies, voll selbstbewußtes Wesen sich in die Sinneswelt hineinstellt, daß auf der anderen Seite wie durch einen Ausgleich sein Zurückschauen in das vorirdische Dasein verdunkelt wird, auch sein erinnerndes Bewußtsein davon, daß während des Schlafes der Christus helfend an seine Seite tritt. Ganz Christusverlassen würde der Mensch nach dem Mysterium von Golgatha sein, wenn er nicht während des Tagwachens sein bewußtes Verhältnis zum Christus herstellte und dadurch den Nachklang, die Nachwirkung in den Schlaf hinübertrüge, so daß er während des Schlafes nun wiederum durch die Christus-Hilfe zusammengehalten werden kann zur Persönlichkeit. [6]

Zitate:

[1]  GA 98, Seite 122f   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[2]  GA 98, Seite 126   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[3]  GA 220, Seite 11f   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)
[4]  GA 215, Seite 110   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[5]  GA 226, Seite 46ff   (Ausgabe 1978, 140 Seiten)
[6]  GA 226, Seite 49f   (Ausgabe 1978, 140 Seiten)

Quellen:

GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)
GA 226:  Menschenwesen, Menschenschicksal und Welt-Entwickelung (1923)