Sinneswahrnehmung

Das Bindeglied zwischen dem vergänglichen Leibe und dem unvergänglichen Geist ist die Seele. Man hat sich vorzustellen, daß die Eindrücke der sinnlichen Außenwelt zuerst von der Seele aufgenommen und dann an den Geist weitergegeben werden. Das Ohr als leibliches Organ empfängt zum Beispiel einen Eindruck durch eine Lufterschütterung. Die Seele wandelt diese Lufterschütterung in die Empfindung des Tones um. Dadurch erst erlebt der Mensch in seinem Inneren – als Empfindung – dasjenige, was sonst ein stummer Vorgang in der äußeren Luft wäre. Und im Innern des Menschen nimmt der Geist wieder die Empfindung wahr. Er erlangt so auf dem Umwege durch die Seele Kunde von der sinnlich-irdischen Außenwelt. [1]

Alles, was man wahrnimmt, nimmt man wahr im Grunde genommen durch die Empfindungsseele. Würde der bloße Empfindungsleib eine solche Nachricht bekommen, so würde er es nicht auffassen können. Er würde davorstehen ohne Verständnis. Daß der Mensch aber etwas wahrnehmen kann, das macht die Empfindungsseele, welche dasjenige, was da vorgeht, auffaßt. Sie können sich nicht nur dadurch wahrnehmen, daß Sie Ihr Auge auf die Oberfläche Ihres Körpers richten, sondern Sie können auch mit Ihren Fingern dahin reichen. Da nehmen Sie es auch durch den Empfindungsleib wahr. Der Empfindungsleib erstreckt sich überall da, wo der Mensch wahrgenommen werden kann durch Berührung, durch Empfindung. Das ist jedoch nicht der Empfindungsleib, was der Mensch da wahrnimmt. Würden Sie den Empfindungsleib wirklich sehen, dann würden Sie sehen, daß da, wo Sie Ihr eigenes Scheinbild sehen, Ihren physischen Leib, ein Astralisches sich herandrängt und zurückgeschoben wird. Wenn etwas zurückgeschoben wird, dann staut es sich. So haben Sie vorne ein Zusammenwirken von Empfindungsleib und Empfindungsseele. Von hinten her kommt die Strömung der Empfindungsseele, so daß sie sich stößt an Ihrer Haut am Vorderleibe, und von vorne stößt sich das hinein, was Ihr Empfindungsleib ist. Wenn zwei Strömungen sich stauen, dann kommt die Stauung zum Vorschein. Jetzt aber denken Sie sich, Sie könnten den einen und den anderen Strom nicht sehen, sondern Sie könnten nur dasjenige sehen, was an dieser Stelle durch das Durcheinanderwirbeln der zwei Ströme zum Vorschein kommt. Das ist das Stück an Ihrer äußeren Leiblichkeit, was Ihr Auge oder sonst irgendein äußerer Sinn an Ihnen selber wahrnehmen kann. Sie können geradezu an Ihrer Haut begrenzen, wo dieses Zusammentreffen von Empfindungsseele und Empfindungsleib stattfindet. [2]

Das Leben der Seele kommt in diesem astralischen Körper zum Ausdruck. Aber er ist auch der Vermittler der eigentlichen sinnlichen Wahrnehmungen. Sie können niemals die sinnlichen Wahrnehmungen in den Sinnesorganen selbst suchen. Was geschieht, wenn das Licht von einer Flamme mein Auge trifft? Dieses Licht besteht ja im äußerlichen Raume darin: die sogenannten Ätherwellen bewegen sich von der Lichtquelle in mein Auge, sie dringen in mein Auge ein, sie bewirken gewisse chemischen Vorgänge in der Hinterwand meines Augapfels, sie verwandeln den sogenannten Sehpurpur, und dann pflanzen sich diese chemischen Vorgänge in mein Gehirn fort. (Trotzdem), mein Gehirn nimmt die Flamme wahr, es bekommt den Lichteindruck. Könnte ein anderer diejenigen Vorgänge, die sich in meinem Gehirn abspielen, sehen, er würde nichts anderes wahrnehmen als physikalische Vorgänge; er würde etwas wahrnehmen, was sich in Raum und Zeit abspielt; nicht aber könnte er innerhalb der physikalischen Vorgänge in meinem Gehirn meinen Lichteindruck wahrnehmen. Dieser Lichteindruck ist etwas anderes als ein physikalischer Eindruck, der diesen Vorgängen zugrunde liegt. Der Lichteindruck, das Bild, das ich mir erst erschaffen muß, um die Flamme wahrnehmen zu können, ist ein Vorgang innerhalb meines astralischen Körpers. Derjenige, welcher ein Sehorgan hat, um einen solchen astralischen Vorgang wahrnehmen zu können, sieht ganz genau, wie sich die physischen Erscheinungen innerhalb des Gehirns in dem astralischen Körper umwandeln in das Bild der Flamme, das wir empfinden. [3]

Wir können sozusagen experimentell auf natürliche Weise zeigen, welche Bedingungen herrschen zwischen den einzelnen Gliedern des Menschen, die ich angeführt habe. Ich möchte Ihnen ein einfaches Experiment anführen, das man mit jedem Somnambulen leicht machen kann. Denken Sie sich, ein Somnambuler steht in der Nacht auf, setzt sich an seinen Schreibtisch, zündet sich ein Kerzenlicht an und versucht dabei zu schreiben. Nun machen Sie folgendes: Sie beleuchten das Zimmer ganz hell durch meinetwillen zehn Lampen, die Sie hinstellen – der Versuch ist gemacht worden und der Betreffende wird ruhig weiterschreiben. Nun löschen Sie die eine Flamme aus, die kleine Kerzenflamme, die er neben sich hingestellt hat, und er wird nicht weiterschreiben, er empfindet das als finster; er nimmt ein Streichholz, zündet sich die Kerze an, dann empfindet er es wieder als Licht und kann weiterarbeiten. Die ganze andere Beleuchtung ringsherum ist für ihn nicht da, nur die Flamme, die er in sein Traumbewußtsein aufgenommen hat, ist allein für ihn da. Sie sehen, es ist nötig, daß der Mensch von innen heraus seine Wahrnehmungsorgane in einer bestimmten Weise durchdringt, sie sozusagen durchsetzt, damit die äußeren Sinneswahrnehmungen eintreten können. Es ist nicht nur nötig, daß wir Augen und Ohren haben, sondern es ist nötig, daß wir von innen heraus dasjenige, was uns Auge und Ohr überliefern, beleben, daß wir von innen heraus dem etwas entgegenstellen, was es uns in Bilder, in Vorstellungen verwandelt, was dann bewirkt, daß es für uns da ist. Im gewöhnlichen Leben ist es unser Ich, unser helles, waches Tagesbewußtsein, welches von sich aus, gleichsam von innen der Außenwelt das entgegenstellt, was wir brauchen, um die Eindrücke herauszuheben und zu unseren Bewußtseinseindrücken zu machen. Denken Sie sich nun einmal dieses Bewußtsein ausgelöscht. Dann ist noch in Tätigkeit der physische Leib, der Ätherleib und der Astralleib. Dieser Astralleib kann nun zwar immer dasjenige, was er von außen empfängt, in Bilder umwandeln, nur wird es nicht in Vorstellungen umgewandelt, nur wird es nicht in das bewußte helle Tagesbewußtsein aufgenommen. Bei den regellosen, wirren Träumen wird es der Ätherleib sein, der vor allem tätig ist und den Kontakt mit der Außenwelt herstellt; bei den Träumen aber, welche in symbolischer, dramatischer Weise ablaufen, ist es der Astralleib des Menschen, welcher die äußeren Eindrücke symbolisiert, verwandelt, sinnbildlich ausdrückt und in einen ganz dramatischen Traum umsetzt.

Nur deshalb, weil in der gegenwärtigen Stufe der Entwickelung unser Tages-Ich realistischer gesinnt ist, weil wir in unserem Tagesbewußtsein gegenwärtig vor allen Dingen auf unseren kombinierenden Verstand uns verlassen, deshalb erscheint uns jede einzelne Sinnesempfindung derart mit der anderen verbunden, durch den Verstand mit den anderen kombiniert, wie das eben im Tagesbewußtsein der Fall ist. Wir können uns andere Zustände des Bewußtseins denken; wir können uns denken, daß der Mensch tiefer in die Natur hineinsieht. Dann hört auch dieses rein verständige Ansehen auf. Das ist eben bei den höheren Arten des Seelenlebens wieder der Fall. [4]

Zitate:

[1]  GA 34, Seite 121   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[2]  GA 115, Seite 58f   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[3]  GA 52, Seite 256f   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[4]  GA 52, Seite 258ff   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)

Quellen:

GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)