Sinnesorgane

Die materialistische Wissenschaft denkt zum Beispiel, daß der Geschmackssinn und der ihm verwandte Geruchssinn nur an die engen Bezirke gebunden sind, welche in der Umgebung der Zunge und der Nasenschleimhaut sind. Aber das ist nicht der Fall. Die materiellen Organe für die Sinne sind nur gewissermaßen die Hauptstädte in dem Reiche der Sinne. Die betreffenden Reiche der Sinne breiten sich viel mehr aus. Ein jeder, der nur einige Selbstbeobachtung hat für den Gehörsinn, wird wissen, daß gehört wird nicht nur eigentlich mit dem Ohre, sondern mit einem viel weiteren Bezirke des Organismus. Ebenso leben die anderen Sinne in einem viel weiteren Bezirke. Der Geschmacks- und der ihm verwandte Geruchssinn leben zum Beispiel deutlich vernehmbar in Leber und Milz. [1]

Das Sinnesleben durchzieht den ganzen menschlichen Organismus. Die Wechselwirkung der Organe beruht darauf, daß immer ein Organ die Wirkung des andern wahrnimmt. Bei denjenigen Organen, die nicht in der eigentlichen Bedeutung Sinnesorgane sind, zum Beispiel Leber, Milz, Niere und so weiter, ist die Wahrnehmung eine so leise, daß sie im gewöhnlichen wachen Leben unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt. Jedes Organ ist außerdem, daß es dieser oder jener Funktion im Organismus dient, noch Sinnesorgan. Es ist der ganze menschliche Organismus von sich gegenseitig beeinflussenden Wahrnehmungen durchzogen und muß es sein, damit alles in ihm gesund zusammenwirkt. [2]

Im großen und ganzen ist es durchaus so, daß die Sinnesorgane eigentlich tote Organe sind, die eben nur einfach vom Ätherleib durchdrungen sind. So daß man das Sinnesleben schon nennen kann das ersterbende Leben. [3] Die Sinnesorgane als solche haben zu tun mit dem, was wir nennen können, physikalische Wirkungen. Auf dem alten Saturn ist ja schon die erste Anlage der Sinnesorgane als eine bloß physikalische Anlage entstanden, und immer wieder und wieder schreitet die Entwickelung der Sinnesorgane des Menschen dadurch fort, daß physikalisches Geschehen sich eingliedert in dasjenige, was sich sonst beim Menschen ausbildet; so daß also im wesentlichen die Sinnesorgane, wie sie heute sind, physikalische Organe sind. Es wird Ihnen ja unschwer auffallen können, daß die Augen physikalische Organe sind, daß die Ohren physikalische Organe sind und so weiter. Gewiß, die niederen Sinne sind wie chemische Organe, aber trotzdem hat das alles mit dem Physikalisch-Chemischen zu tun. Der Ätherleib durchdringt gewissermaßen die Sinnesorgane, sonst wären sie nicht Lebensapparate; aber es bleibt einiges außerhalb des ätherischen Bereichs als etwas, was ganz physisch ist. [4] Gewissermaßen eine dünne Zone, eine dünne Außenzone aus dem Physikalischen heraus ist der Sinn; aus dem, was eben als die Außenwelt wirkt. Sie können das ja mit einem physikalischen Geschehen vergleichen: das Auge kann wie eine Dunkelkammer (camera obscura) betrachtet werden, wo die Gegenstände von außen herein ihre Abbilder erzeugen wie in einem fotografischen Apparat; und das, was da drinnen erzeugt wird, das wird erst aufgefangen von dem Ätherleib, Astralleib und dem Ich. Wir haben also mit der Außenwelt eine physikalische Wechselwirkung, die in unserer Peripherie stattfindet. Und auf diese Wechselwirkung mit der Außenwelt bauen wir erst unseren Seelenprozeß auf, insofern dieser Prozeß Wahrnehmung der Außenwelt ist und Verarbeitung der Wahrnehmung in der Seele. So wie ich das jetzt dargestellt habe, müßte die Sache beim Menschen sein, wenn er sich rein fortentwickelt hätte, so wie ihn die göttlich-geistigen Wesenheiten veranlagt haben. Da bleibt also außerhalb dieses Ätherleibes, der sich regelrecht fortgebildet hat durch Sonnen-, Mond- und Erdendasein hindurch, die physikalische Sinneszone gleichsam außen. Würde aber das wirklich nur so sich entwickelt haben, dann würde ja der Mensch gewissermaßen immer abwarten müssen, wie die physischen Prozesse in seinem Auge, in seinem Ohr entstehen, und er würde diese physischen Prozesse mit seinem Astralleib und seinem Ich erfassen. Er würde immer ein Vorstellungsbild haben: in meinem Auge ist eine Farbe, in meinem Ohr ist ein Ton und so weiter; er würde nicht nach außen seine Sinne geöffnet haben, er würde nur das, was in seinem Inneren ist, wahrgenommen haben, er würde die Empfindung haben: in mir ist eine Zone, die ist ganz durchsetzt von Wirkungen des Makrokosmos, und die nehme ich wahr. Es ist interessant, daß in den ersten Kinderjahren das Kind, wenn auch schwach und traumhaft, wirklich dieses Bewußtsein hat. Es achtet nicht auf die Außenwelt, sondern merkt auf dasjenige, was es als Wahrnehmungen in seinem eigenen Inneren hat. Das Kind fühlt wirklich die Haut als eine Art Umhüllung und achtet auf dasjenige, was als Gemälde und Töne dadrinnen stattfindet. Wir können nun fragen: Warum bleibt das nicht so das ganze Leben lang? – Weil der luziferische Einfluß stattgefunden hat und weil er eben dasjenige, was sich als rechtmäßiger Fortgang im Ätherleib von der alten Sonne an gebildet hat, ausfüllt. Das heißt, die luziferischen Geister strecken ihren Einfluß von außen nach innen her. [5] Da wo die Nerven einmünden ins Gehirn, da begegnet sich die luziferische Wirkung mit der auch den Nervensträngen entlang gehenden göttlich-geistigen Wirkungen.

Sie sehen daran, daß es in der ursprünglichen göttlich-geistigen Absicht lag, den Menschen sich selbst so zu geben, daß – indem er sich selbst durchschaute – er die Welt innerlich verarbeitet hätte. Luzifer hat gemacht, daß der Mensch in dieser Beziehung sich selbst entrissen wurde, und nun die Welt rings herum anschaut und wahrnimmt. Das heißt, Luzifer hat den Menschen der Welt gegeben, er hat ihn hineingestellt in das Erdendasein, er hat ihn aus sich herausgeführt. Tief, tief bedeutsam ist das biblische Wort: Ihr werdet den Göttern gleich sein, Eure Sinne werden aufgeschlossen werden –, denn es war nicht beabsichtigt, sie aufzuschließen, sondern sie so zu lassen, daß der Mensch in seinem Denken zurückschaut zum alten Mondendasein und in diesem Denken dasjenige einfängt, was an seiner Peripherie der Makrokosmos bewirkt, das was da herein von den Göttern gegeben war. [6]

Sie müssen die letzten Nachkommen des Saturnminerals in Ihren Augen, Ohren und Ihren anderen Sinnesorgane sehen. Das ist das Physischste, das Mineralischste an Ihnen. Der Apparat des Auges ist wie ein physikalisches Instrument und bleibt auch eine Zeitlang nach dem Tode unverändert. [7] Alle Sinneswerkzeuge, alle physikalischen Apparate am Menschen haben nur die Stufe eines Minerals erreicht. Sie folgen ganz denselben Gesetzen wie die Mineralien. Auge und Ohr gehören zu den mineralischen Einschlüssen. [8] Bei den anderen Sinnen ist es zwar ebenso, aber die Sache tritt für die äußere Beobachtung nicht mit derselben Schärfe zutage, nicht so scharf, wie wenn man das, was eigentlich hier gemeint ist, für den Sinn des Gesichts, für das Auge in Betracht zieht. Bedenken Sie, dieses Auge als ein physikalischer Apparat liegt ja eigentlich als ein ziemlich selbständiges Organ im menschlichen Schädel drinnen und ist eigentlich nur durch die Anhänge, die Anhänge der Blutadern, die Anhänge der Nerven, nach rückwärts in den menschlichen Leib hinein verlängert. So daß man sagen kann, dieses Auge als physikalischer Apparat, also insofern es aufnimmt die äußere Sinneswelt in ihrer Sichtbarkeit, ist ein selbständiger Organismus, bis zu einem gewissen Grade wenigstens. So ist es eigentlich für jeden Sinn, nur für die anderen Sinne ist die Sache nicht so scharf ins Auge fallend. Jeder Sinn als Sinn ist im Grunde genommen etwas Selbständiges. Das Merkwürdige bei den Sinnen ist nämlich das, daß in diesen rein physikalischen Apparat hineinragt der Ätherleib. Wir haben es bei allen Sinnen zu tun mit etwas, das vom Organismus ausgespart ist, und das nur durchlebt wird vom Ätherleib. Sie würden nicht das, was in Ihrem Auge durch das Hereinfallen des Lichtes bewirkt wird, mit Ihrem Bewußtsein vereinigen können, wenn Sie nicht den Sinn des Auges, und so auch die anderen Sinne, durchziehen würden mit Ihrem Ätherleib. [9]

Die Außenwelt ragt durch Sinne, Auge und so weiter herein, und von innen kommen wir nur mit dem Ätherleib entgegen und durchziehen das, was uns die Außenwelt hineinschickt, mit unserem Ätherleib. Er nimmt dadurch Teil an der Außenwelt. [10] Aber was ist der Ätherleib zuletzt? Er ist dasjenige, was der Mensch nun hereinbekommt aus dem Kosmos, aus dem Makrokosmos (siehe: Ätherleib – Bildung des Ätherleibes). So daß, indem der Mensch seinen Ätherleib aus dem makrokosmischen Verhältnisse abschnürt, der Makrokosmos in dem Menschen durch die Sinne sich selbst ergreift. Wir können uns fühlen als Sohn des Makrokosmos, indem wir ein Ätherleib sind, und ergreifen die irdische Sinneswelt mit unserem makrokosmischen Teil. [11]

Viel weniger sind die Sehvorgänge an das Werkzeug des Auges gebunden als die intelligenten Vorgänge an das Werkzeug des Gehirns. Das, was das Auge zu tun hat mit dem Sehen, das ist nämlich etwas ganz anderes. Die Vorgänge, die in unserem Bewußtsein auftreten als Inhalt beim Sehen, diese Vorgänge haben mit dem Auge nichts zu tun. Was im Auge vorgeht, das bewirkt lediglich, daß wir mit unserem Bewußtsein, mit unserem Ich bei den Sehvorgängen dabei sind. Bitte beachten Sie wohl diesen fundamentalen, aber nicht leicht zu fassenden Unterschied. Nehmen Sie zum Beispiel einen Menschen, der beide Augen durch irgendeine Krankheit verloren hat. Dadurch hat er nicht eingebüßt den Sehvorgang als solchen, sondern er hat eingebüßt die Wahrnehmung desjenigen, was der Sehvorgang ist, durch sein Ich. Das Ich weiß nichts vom Sehvorgang. Was da geschieht, kann man etwa mit dem Folgenden vergleichen. Nehmen Sie an, Sie haben drei Telegrafenstationen, A, B, C; auf jeder Telegrafenstation haben Sie einen Telegrafisten aufgestellt. Wenn nun der Mann in A nach C telegrafiert, so kann der C ablesen, was da von A nach C hin telegrafiert wird. Es ist gar keine Rede, daß der Morseapparat in A den Inhalt des Telegramms hervorbringt. Er ist nur der Vermittler. Ebenso kann der Morsetelegraf in C nicht lesen, aber er vermittelt. Wenn aber eingeschaltet ist in die Bahn A – C der Apparat B, dann kann der Mann, der B bedient, sich dazusetzen und kann mithören oder mitlesen; es ist B dann eingeschaltet in den Gang des Stromes, der den Telegrafeninhalt vermittelt. Aber der Inhalt, der da von A nach C geht, der hat gar nichts zu tun mit den Vorgängen, die sich im Morsetelegrafen bei B abspielen. Sie werden nur wiederum dadurch, daß der Apparat eingeschaltet ist, wahrgenommen. Natürlich, wenn der Apparat nicht eingeschaltet ist, kann man die Vorgänge nicht wahrnehmen. So ist es mit dem menschlichen Auge. Dasjenige, was Vorgänge im Auge sind, das hat an innerer Wahrheit gar nichts mit dem Sehen zu tun. Das Auge ist nur eingeschaltet in die Vorgänge. Und weil das Auge eingeschaltet ist in die Vorgänge, so kann das Ich zusehen bei den Vorgängen des Sehens. Aber das Auge ist gar nicht dasjenige, was eigentlich den Inhalt der Sehvorgänge vermittelt oder bewirkt oder irgendwie etwas macht damit. Es ist nur Auffangapparat für das Ich. Höhere Sinnesorgane sind nicht dazu da, die Sinnesvorgänge zu vermitteln, sondern dazu, daß ein Ich von den Sinnesvorgängen weiß. [12]

Das Auge, das schon fertig ist, sieht die Vorderseite des Lichtes, das Physische. Aber das Auge wird von dem Geistigen, von dem Seelischen des Lichtes, von dem, was dahinter liegt, gebildet. Im ganzen Menschen sehen wir umgestaltete geistige Wesenheit, die wiederum zurückgestaltet wird. Sie übergeben mit dem Tode der Erde Ihre physischen Sinnesorgane. Aber dasjenige, was in den physischen Sinnesorganen lebt, das leuchtet auf zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und wird gerade Ihr inneres Zusammensein mit den geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien. [13]

Zitate:

[1]  GA 170, Seite 122   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[2]  GA 27, Seite 77   (Ausgabe 1984, 142 Seiten)
[3]  GA 208, Seite 87   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[4]  GA 162, Seite 263f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[5]  GA 162, Seite 266f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[6]  GA 162, Seite 268f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[7]  GA 99, Seite 100   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[8]  GA 98, Seite 137   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[9]  GA 180, Seite 91f   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[10]  GA 180, Seite 93   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[11]  GA 180, Seite 95   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[12]  GA 196, Seite 200f   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[13]  GA 218, Seite 319   (Ausgabe 1976, 336 Seiten)

Quellen:

GA 27:  Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Von Dr. Rudolf Steiner und Dr. Ita Wegman (1925)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 208:  Anthroposophie als Kosmosophie – Zweiter Teil:. Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen (1921)
GA 218:  Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus (1922)