Sinne höhere

Es kann natürlich leicht zu Mißverständnissen führen, wenn man die höheren Wahrnehmungsorgane Sinne nennt. Man muß berücksichtigen, daß hier eben von «höheren Sinnen» nur vergleichsweise, in übertragenem Sinne gesprochen wird. Nur in der Bedeutung von «Wahrnehmungsorgan» wird der Ausdruck «Sinn» gebraucht. [1]

Der Ausdruck «okkulte Sinne» sollte vermieden werden, denn man kann nicht sagen, daß der Mensch okkulte Sinne bekommt, sondern es ist eine ganz andere Art des Wahrnehmens. Man sollte das, was sich aus dem, was man die Lotusblumen (siehe: Astralleiborgane) nennt, organisiert, nicht Sinne, sondern höchstens Sinnesfähigkeit nennen. [2]

Es begegnen sich in unserem Organismus die von innen nach außen drängenden Kräfte des Gleichgewichts, der Bewegung, des Lebens; die von außen nach innen drängenden Qualitätsorientierungen des Riechens, des Schmeckens, des Tastens. Dadurch, daß die ineinanderdrängen, entsteht ein festes Selbstbewußtsein im Menschen, dadurch erfühlt sich der Mensch gewissermaßen erst als ein rechtes Selbst. Und geradeso wie wir abgeschlossen sind von der äußeren Geistigkeit – zu Recht selbstverständlich, denn wir würden sonst im physischen Leben keine sozialen Wesen werden –, wie wir abgeschlossen sind von dieser Geistigkeit durch Sprache, durch Gedankenwahrnehmung, durch Ich-Wahrnehmung gegenüber den anderen Menschen, so werden wir, indem gerade Geruchs-, Geschmacks- und Tastqualitäten entgegenwachsen dem Gleichgewicht, der Bewegung, dem Leben, so werden wir nach innen abgeschnitten von dieser Dreiheit Leben, Bewegung und Gleichgewicht, die sich uns sonst unmittelbar enthüllen würden. Es lagern sich gewissermaßen die Erfahrungen des Geruchssinnes, des Geschmackssinnes, des Tastsinnes vor dasjenige, was wir erfahren würden an Gleichgewichtssinn, an Bewegungssinn, an Lebenssinn. Und darin besteht das Ergebnis jener Entwickelung zur Imagination, daß wir ebenso, wie der Orientale haltmacht bei der Sprache, um in ihr zu leben, haltmacht bei den Gedanken, um in ihnen zu leben, haltmacht bei der Ich-Wahrnehmung, um in ihr zu leben, um so in die geistige Welt nach außen hin hineinzudringen, gerade so, wie er haltmacht, wir durch die Imagination, indem wir gerade die äußere Wahrnehmung gewissermaßen vorstellungslos einsaugen, dazu gelangen, gewissermaßen jetzt die entgegengesetzte Tätigkeit auszuüben von der, die der Orientale gegenüber Sprache, Gedankenwahrnehmung und Ich-Wahrnehmung ausübt. Der zur Imagination Strebende windet sich durch Geruch, Geschmack und Tastwahr-nehmung hindurch, er dringt in das Innere hinein, so daß ihm dann, indem er unbehelligt bleibt von Geruchswahrnehmung, Tastwahrnehmung, Geschmacks-wahrnehmung, entgegentritt dasjenige, was zu erleben ist mit Gleichgewicht, Bewegung und Leben. [3] Wenn man so vorgedrungen ist, dann ist man zu dem gekommen, was man zunächst wegen seiner Durchsichtigkeit als die wahre innere Wesenheit des Menschen erlebt. Dasjenige, was die nebulosen Mystiker träumen, das findet man nicht. Aber man findet eine wirkliche Organologie, und man findet vor allen Dingen in seinem Inneren das wahre Wesen desjenigen, was im Gleichgewichte ist, was in Bewegung ist, was vom Leben durchströmt ist. [4] Dasjenige, was durch diese Umwandelung (als Folgen der Meditation und Konzentration) geschieht, läßt sich so charakterisieren, daß zum Beispiel die Lunge einen ähnlichen Charakter annimmt wie das Auge. Es tritt in einem allerdings höheren Schauen der vitalistische Vorgang zunächst zurück. Wir geben uns weniger dem hin, was die Lunge durch Atmung organisch aus uns macht; aber wir wandeln die Lunge so um, daß sie nun auch ein Sinnesorgan wird, allerdings nicht die physische Lunge, sondern einen feineren Teil, den ätherischen Teil der Lunge. Der Ätherleib der Lunge, der nimmt wahr, der ist also ein höheres Sinnesorgan. Sie sehen, im Erlangen der Erkenntnis höherer Welten wird die Lunge aus einem gewöhnlichen, nicht wahrnehmenden Körperorgan, das aber dem Wachstum, der Lebensentfaltung des Körpers gewidmet ist, ein Sinnesorgan im höheren Sinne. Solche Betrachtungen können wir für das Herz anstellen, aber auch für die anderen Organe, für Nieren, für Magen und so weiter anstellen. Alle Organe, die der Mensch in sich trägt, können durch gewisse höhere Entwickelung, indem ihr Ätherisches oder ihr noch Geistigeres, das Astralische, zu Wahrnehmungsorganen werden, können «Sinnesorgane» werden. Und so wie wir durch das Auge das Licht oder die Farben, das heißt, einen gewissen Teil der äußeren Sinneswelt wahrnehmen, so nehmen wir einen Teil der äußeren geistigen Welt wahr gerade durch das ätherische Lungenorgan, einen anderen Teil der geistigen Außenwelt durch das ätherische Herzorgan. Wir können unseren Gesamtorganismus in einen Sinnesorganismus umbilden. Sehen Sie, da haben Sie gewissermaßen real erfaßt, was sonst als Außenwelt nur bis an die Oberfläche der Sinne dringt und dann Vorstellung wird. Das haben Sie tiefer, aber jetzt als geistige Außenwelt an den Menschen herandringend. Der Mensch wird gewissermaßen, indem er seine inneren Organe zu Sinnesorganen umbildet, nach und nach innerlich so durchsichtig, wie das Auge durchsichtig ist. Wir sehen, wie die Außenwelt ihn durchsetzt. [5] Die (physischen) Sinnesorgane müssen ausgeschaltet werden, wenn der Mensch eine esoterische Entwickelung durchmacht; sie müssen sozusagen schweigen. Dafür nun, daß sie als physische Sinnesorgane ausgeschaltet sind, tritt etwas anderes ein: ein allmähliches Bewußtwerden der einzelnen Sinnesorgane wie besondere Welten, die in einen hineindringen. Man lernt empfinden die Augen, die Ohren, sogar den Wärmesinn, wie hineingebohrt in einen, das sind die Ätherkräfte, die organisierend wirken an den Sinnesorganen. [6]

Erlangt des Menschen astralischer Leib die Fähigkeit, die Obertöne zurückzuschieben, was in trivialer Sprache ausgedrückt nichts anderes heißt, als die Aufmerksamkeit von ihnen abzuwenden, dann bedeutet das, eine hohe Macht des astralischen Leibes. Er wird noch stärker sein, wenn er nicht nur die Obertöne zurückschieben kann, nicht nur die Vorstellungen dadurch erreicht, daß er die Obertöne zurückschiebt und dadurch an die Grenze der äußeren Welt kommt und sie an ihrer Grenze als Vorstellung beobachten kann, sondern wenn er sich fähig macht, ohne daß erst ein Widerstand da ist, durch eine eigene innere Kraft seine astralische Substanz herauszustoßen. Um zur Vorstellung zu kommen, haben Sie immer noch nötig, einen Widerstand zurückzuschieben: das System der Obertöne.

Das rote Westfenster, Mittelmotiv Wenn Sie nun in der Lage sind, ohne daß eine äußere Veranlassung da ist, Ihre astralischen Fangarme herauszustrecken, so tritt das ein, was man im höheren Sinne das geistige Wahrnehmen nennen kann. In dem Augenblick, wo der Mensch die Fähigkeit erlangt, zwischen den Augenbrauen seine astralische Substanz herauszuschieben wie zwei Fangarme, da bildet er an dieser Stelle das, was man die zweiblätterige Lotusblume nennt, das erste geistige Organ, was man auch nennen kann den imaginativen Sinn.

Und in demselben Maße, als der Mensch immer fähiger und fähiger wird, so aus sich heraus, ohne daß er durch die Außenwelt gezwungen wird, seine astralische Substanz herauszustrecken, in demselben Maße bildet er weitere höhere Sinne aus. In der Gegend des Kehlkopfes bildet er aus durch diese Arbeit einen sehr komplizierten Sinn, die 16-blättrige Lotusblume, den inspirierenden Sinn; weiter in der Herzgegend den Sinn, den man auch den intuitiven Sinn nennen kann, die 12-blättrige Lotusblume, und dann noch weitere höhere Sinne, die man aber nun, weil man da ins rein Geistige kommt, nicht mehr Sinn nennen kann im gewöhnlichen Sinne. Es genügt ja, daß wir zu den physischen, eigentlichen Sinnen hinzuzufügen haben den imaginativen Sinn, den inspirierenden Sinn und den intuitiven Sinn. Nun fragen wir uns: Sind nun diese drei Sinne nur tätig im hellsichtigen Menschen oder gibt es auch beim gewöhnlichen Menschen etwas, was er als eine Tätigkeit dieser Sinne auffassen kann? Beim hellsichtigen Menschen wirken sie, indem sie sich wie Fangarme nach außen erstrecken. Beim gewöhnlichen Menschen sind sie auch vorhanden, nur mit dem Unterschied, daß sie sich da nicht nach außen, sondern daß sie sich nach innen strecken. Genau an der Stelle, wo die zweiblättrige Lotusblume beim hellsichtigen Menschen entsteht, da ist beim gewöhnlichen Menschen etwas vorhanden wie zwei solcher Fangarme, die nach innen gehen, die sich nur in der Gegend des Vorderhirns kreuzen. So wendet das gewöhnliche Bewußtsein einfach diese Fangarme, statt wie beim hellsichtigen Menschen nach außen, nach innen. Dasjenige, was hier vorliegt, kann ich Ihnen nur durch einen Vergleich klarmachen. Sie müßten viel meditieren, wenn Sie über den Vergleich hinauskommen wollen zur Tatsache. Sie brauchen sich nur klarzumachen, daß der Mensch das, was er außer sich hat sieht, und das, was er in sich hat, nicht sieht. Keiner hat noch sein eigenes Herz oder Gehirn gesehen. So ist es auch im Geistigen. Die Organe werden nicht nur nicht gesehen, sondern sie werden auch nicht bewußt, und sie können deshalb auch nicht angewendet werden. Aber sie wirken. Tätig sind diese Sinne, aber ihre Tätigkeit richtet sich nach innen. Und diese Wirkung der Tätigkeit nach innen nimmt jetzt der Mensch wahr. Indem sich der imaginative Sinn nach innen ergießt, entsteht das, was man im gewöhnlichen Leben die Empfindung irgendeiner Sache nennt, die äußere Empfindung, die äußere Wahrnehmung. Daß Sie die Dinge draußen sehen, das beruht darauf, daß nach innen hinein dieser Sinn arbeitet. Was Sie nach draußen als Empfindung, als Wahrnehmung haben, das können Sie nur dadurch haben, daß dasjenige in Sie hineinarbeitet, was im imaginativen Sinn zum Vorschein kommt. Unterscheiden Sie aber wohl, was hier Empfindung genannt ist, von dem, was zum Beispiel ein Ton ist. Es ist noch etwas anderes, einen Ton zu hören, eine Farbe zu sehen, oder eine Empfindung dabei zu haben. Auch der inspirierte Sinn ergießt seine Tätigkeit nach innen und durch diese Tätigkeit entsteht das, was nun eine kompliziertere Empfindung ist: das Gefühl. Das ganze Gefühlsleben, das mehr Innerlichkeit hat als das bloße Empfindungsleben, ist eine Tätigkeit des inspirierenden Organes, das nur nach innen tätig ist statt nach außen. Und wenn der intuitive Sinn sich nach innen ergießt, dann entsteht das, was wir eigentlich jetzt das Denken nennen, das Gedankenbilden. Wenn wir nun weitergehen würden und die höheren Sinne, die wir nun nicht mehr gut Sinne nennen können, die den anderen Lotusblumen entsprechen, in ihrer Wirkung nach innen betrachten, so würden wir das gesamte höhere Seelenleben finden.

Und am Ende dieser Reihe finden wir jene allerfeinste Seelentätigkeit, die wir nun nicht mehr mit dem bloßen Gedanken bezeichnen, sondern als den reinen Gedanken, den bloß logischen Gedanken. Das ist das, was hervorgebracht wird durch das Hineinwirken der verschiedenen Lotusblumentätigkeiten. Wenn nun dieses Hineinarbeiten wiederum aufhört, bloßes Hineinarbeiten zu sein und, wie ich angedeutet habe, anfängt hinauszuarbeiten, wenn also jene Fangarme, die sich sonst nach innen erstrecken, sich überall kreuzen und nach außen sich als Lotusblumen ergießen, dann kommt jene höhere Tätigkeit zustande, durch die wir von der Seele aufsteigen zum Geiste, wo dasjenige, was uns sonst bloß als Innenleben erscheint in Denken, Fühlen und Wollen, nunmehr in der Außenwelt auftritt, getragen von geistigen Wesenheiten.

So haben Sie den Menschen sozusagen begriffen, indem Sie aufgestiegen sind von den Sinnen durch die Seele zu dem, was eigentlich nicht mehr im Menschen ist, sondern was als Geistiges von außen hereinwirkt und dem Menschen ebenso angehört wie der ganzen Natur und der ganzen übrigen Welt draußen. Wir sind aufgestiegen zum Geistigen. [7]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 90   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 164, Seite 184f   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[3]  GA 322, Seite 118f   (Ausgabe 1969, 140 Seiten)
[4]  GA 322, Seite 121   (Ausgabe 1969, 140 Seiten)
[5]  GA 212, Seite 26f   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[6]  GA 145, Seite 45f   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[7]  GA 115, Seite 53uf   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)
GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)
GA 322:  Grenzen der Naturerkenntnis (1920)